Hintergrund
«Die Vision Pro kann isolieren, aber auch verbinden»
von Samuel Buchmann
Ist Apples neue Brille die Revolution des Computings oder nur ein teures Spielzeug? Ich habe in der Vision Pro nach der Zukunft gesucht. Gefunden habe ich Genialität, Potenzial und Sackgassen.
«Es gibt keine Kopfhörer für Video», sagte Steve Jobs einst. 19 Jahre später baut Apple welche: Die Vision Pro ist da – eine Brille für Virtual (VR) und Augmented Reality (AR), die Cupertinos Marketing einen «räumlichen Computer» nennt. Verfügbar ist sie zunächst nur in den USA. Bis sie nach Europa kommt, dürfte es noch Monate dauern.
Nach der Ankündigung war ich skeptisch, ob die Vision Pro einen Mehrwert bietet. Nun konnte ich sie einige Stunden ausprobieren und stehe vor einem Paradoxon. Viele meiner Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Die Vision Pro ist zum Preis von mindestens 3500 US-Dollar ein irrationales Produkt. Aber ich will das Ding trotzdem.
Ich stehe im Wintergarten von Digitec-Galaxus-Kunde René Vogel. Der Apple-Fan hat sich die Vision Pro in New York geholt und lässt mich sie ein paar Stunden ausprobieren. Er selbst ist hellauf begeistert, wie er im Interview erzählt.
Auch ich staune, als ich die Vision Pro zum ersten Mal aufsetze. Im Standardmodus wird mir vorgegaukelt, dass ich durch eine transparente Brille schaue. Dazu filmen Kameras meine Umgebung und füttern sie live in die Displays vor meinen Augen. Passthrough-Modus nennt sich das. Im physischen Raum schweben digitale Menüs, Fenster oder dreidimensionale Objekte. Sie stehen bockstill, als wären sie real. Ich nehme keine Latenz wahr zwischen der Realität und dem, was ich sehe.
Die Bedienung wirkt im ersten Moment magisch: Ich brauche keine Controller. Mein Blick ist der Cursor, meine Hand die Maustaste. Um etwas auszuwählen, muss ich es anschauen und Daumen und Zeigefinger zusammenführen. Wo ich das mache, ist egal, solange es im Sichtfeld des Headsets passiert. Ich kann Dinge festhalten und im Raum verschieben. Mit zwei Händen zoome ich rein und raus. Das Konzept ist ähnlich intuitiv wie Multi-Touch auf einem Smartphone.
Nach den ersten fünf Minuten muss ich meine Kinnlade vom Boden aufheben. Erlebe ich gerade ein ähnlich revolutionäres Produkt wie das erste iPhone?
Gewisse Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Wie schon mit dem iPhone hat Apple mit der Vision Pro keine neue Produktkategorie erfunden. Sie ist im Kern eine VR-Brille mit AR-Simulation – egal, wie oft Tim Cook sie einen «räumlichen Computer» nennt. Die Grundidee ist die gleiche wie die der Meta Quest Pro, die ich vor über einem Jahr getestet habe.
Die Revolution liegt wie bei den meisten Apple-Produkten in der Umsetzung. Die Vision Pro ist die erste VR-Brille, die ich nicht nach einer halben Stunde ausziehen will. Genau wie das iPhone das erste Smartphone war, das ich tatsächlich benutzen wollte.
Fünf Dinge machen die Vision Pro besser als alles bisher Dagewesene:
Diese technische Herkulesleistung ist teuer. Sehr teuer. 3499 US-Dollar kostet die Vision Pro in den USA in der Basisvariante mit 256 Gigabyte Speicher. Willst du 1 Terabyte, steigt der Preis auf 3899 Dollar. Bist du wie ich kurzsichtig, werden 149 Dollar für die Korrektureinsätze fällig. Du willst ein Case oder einen Ersatzakku? Je 199 Dollar bitte. Dazu kommt die Mehrwertsteuer – und in Europa wahrscheinlich Apples üblicher Preisaufschlag von rund zehn Prozent.
Eine Vision Pro mit 512 GB Speicher und etwas Zubehör dürfte in der Schweiz über 4500 Franken kosten. Private Importe aus den USA wechseln im Moment für mindestens 5500 Franken die Besitzer.
Zu diesem Preis erhältst du die beste VR-Brille, die es gibt. Das macht sie aber bei weitem nicht zu einem perfekten Produkt. Die Magie der Vision Pro ist zerbrechlich und es gibt Dinge, die sie zeitweise entzaubern. Einige davon könnte Apple in kommenden Generationen verbessern. Andere sind Sackgassen des Konzepts.
Dinge mit Verbesserungspotenzial:
Konzeptionelle Endstationen:
Die Vision Pro ist ein Gesichtscomputer, den ich aufsetzen muss. Auch wenn die Brille bequem ist: Sie ist schwer. Sie macht die Frisur kaputt. Sie hat einen Akku mit Kabel. Damit ich mir den Fremdkörper im Gesicht langfristig antue, muss er einen gewaltigen Mehrwert bieten. Die Schwelle ist massiv höher als bei einem Handcomputer, den wir heute Smartphone nennen. In einigen Situationen nimmt die Vision Pro diese Hürde. In anderen könnte sie es in Zukunft. In wieder anderen wird sie es nie schaffen.
Die Paradeanwendung für Apples VR-Brille. Die Vision Pro ist das beste mobile Kino, das es gibt. Sie zaubert mir eine riesige Leinwand vor die Nase, die ich nach Belieben verschieben und skalieren kann. An die Decke über dem Bett. In eine virtuelle Umgebung, wenn ich im Flugzeug sitze. An die Wand in einer Wohnung ohne Fernseher. Sie ist so gut und bequem, dass ich mir wohl selbst in meiner Wohnung mit Fernseher öfter einen Film im virtuellen Kino anschauen würde. Zudem öffnet die Brille das Tor zu 3D-Inhalten – wenn auch nicht zu allen.
Der Gaming-Bereich liegt noch brach. Am ehesten lässt sich die Brille als Gesichtsfernseher mit externem Gamepad verwenden. Entweder für Spiele auf einem Mac oder vielleicht bald mit nativen Apps für Cloudgaming-Dienste wie GeForce NOW. VR-Games wären ebenfalls möglich, hier sehe ich aber Headsets mit Controllern wie die PSVR2 oder die Meta Quest 3 klar im Vorteil.
Auch arbeiten lässt es sich in der Vision Pro. Native VisionOS-Apps sind noch rar, doch das wird sich mit der Zeit verbessern. Bis dahin muss ich meinen Mac verbinden und die Brille eher als externen Bildschirm betrachten. Der virtuelle Monitor hat eine Auflösung von 2560 × 1440 Pixel. Als Belastungsprobe versuche ich, darauf ein Video in DaVinci Resolve zu graden. Dafür empfinde ich das Bild als zu dunkel und das foveated rendering stört mich. Im Web surfen oder Texte schreiben geht hingegen wunderbar. Multiscreen-Setups der Mac-Oberfläche sind nicht möglich. Das stört mich nicht. Ich kann daneben weiterhin das ganze Zimmer mit VisionOS-Apps wie Safari tapezieren.
Würde ich das zuhause oder im Büro freiwillig tun? Wahrscheinlich nicht. Ein echter Monitor ist besser. Und ich muss mir dafür keinen Gesichtscomputer anschnallen. Selbst wenn die Brille leichter und noch besser wäre, würde sich daran nichts ändern. Anders sieht es unterwegs aus. Im Flugzeug oder in einem Hotelzimmer wäre mir die riesige Arbeitsfläche die zerstörte Frisur wert.
Eine Blackbox ist für mich das Potenzial von Augmented und Mixed Reality (MR). Bei letzterer interagieren virtuelle Objekten mit der physischen Welt. Schon lange prophezeien Enthusiasten revolutionäre Anwendungen dafür. Microsoft versuchte mit der HoloLens in den professionellen MR-Markt vorzustossen. Weitgehend erfolglos, die Entwicklung wurde eingestellt. Ob Apples Strahlkraft Entwicklerinnen und Anwender ködern kann, bleibt abzuwarten. Bisher gibt es ein paar nette Demonstrationen wie die App JigSpace, mit der sich ein virtuelles Flugzeugtriebwerk im Zimmer platzieren und auseinandernehmen lässt.
Youtuberin Cleo Abram reflektiert in ihrem neuesten Video das Potenzial von AR und MR:
Möglichkeiten gäbe es viele. René arbeitet zum Beispiel im Museumsbereich und könnte sich virtuelle Rundgänge für Personen vorstellen, die nicht zu einem physischen Besuch in der Lage sind. Oder historische Wanderwege, die stellenweise mit digitalen Inhalten angereichert werden. So könnte zum Beispiel aus einer Ruine das ursprüngliche Gebäude werden.
Kommen die Brillen im Massenmarkt an, können sich in Zukunft hoffentlich mehrere Personen die gleichen Inhalte anschauen. Denn was mir erst bei meinem Test so richtig bewusst wird: In der Vision Pro bin ich alleine. Sie wirkt sozial isolierend. Mit Freunden einen Film schauen? Der Arbeitskollegin etwas auf dem Monitor zeigen? Im Videocall etwas in die Kamera halten? Fehlanzeige. Bei einem Gespräch mit einer realen Person sieht das Gegenüber bestenfalls das seltsame Abbild meiner Augen. Eine echte Verbindung entsteht so nicht.
Die Apple Vision Pro ist aufregend. Eine Machtdemonstration von Apples Ingenieurskunst. Es ist die erste VR-Brille, die ich tatsächlich haben will. Sie ist schöner, schärfer, präziser, bequemer und durchdachter als alles bisher Dagewesene. Dank Apples Strahlkraft, nahtloser Integration ins Ökosystem und geschicktem Marketing entfacht sie einen Hype, von dem andere Hersteller wie Meta nur träumen können.
Ist die Vision Pro das nächste iPhone? Der Computer der Zukunft? Nein. Sie setzt eine bekannte Idee zwar hervorragend um. Doch sie endet in der gleichen Sackgasse wie andere Gesichtscomputer: Die Nachteile überwiegen in vielen Situationen die Vorteile. Ich muss mir das Ding auf den Kopf schnallen und betrachte die Welt permanent durch Kameras und Displays. Das isoliert mich sozial, denn andere anwesende Personen sehen nicht, was ich sehe. Nur wenige Anwendungen bieten so viel Mehrwert, dass ich das alles in Kauf nehme. Daran wird sich auch mit kommenden Generationen und noch besserer Technik nichts ändern.
Es ist ein Kompromiss, den Apple-CEO Tim Cook bewusst eingegangen ist. Die Vision Pro ist eine Simulation der physisch transparenten AR-Brille, die er eigentlich bauen will. Ob er es jemals können wird, steht in den Sternen. Und wenn die Technik irgendwann soweit ist, birgt auch dieses Konzept Kompromisse.
In der Gegenwart sehe ich für die Vision Pro vor allem zwei Anwendungsgebiete: als mobiles Kino und als externer Bildschirm für einen Mac. Das erste Erlebnis ist so gut, dass ich es sogar zuhause nutzen würde. Das zweite ist einem stationären Arbeitsplatz zwar unterlegen, aber unterwegs ein echter Mehrwert. Einen solchen könnten in Zukunft auch Games, AR- und MR-Inhalte bieten. Doch ich bewerte ein Produkt nicht nach dem Prinzip Hoffnung.
Ist die Vision Pro unter dem Strich ihren astronomischen Preis wert? Nur für eine winzige Zielgruppe von Enthusiasten. Du bezahlst die Entwicklungskosten für ein futuristisches Pionierprodukt der ersten Generation, das nichts ersetzt, sondern höchstens ergänzt. Bist du dir dessen bewusst und es ist dir egal, wird dich Apples Brille nicht enttäuschen. Sie macht Spass. Ich werde als Nerd nur schwer widerstehen können.
Mein Fingerabdruck verändert sich regelmässig so stark, dass mein MacBook ihn nicht mehr erkennt. Der Grund: Wenn ich nicht gerade vor einem Bildschirm oder hinter einer Kamera hänge, dann an meinen Fingerspitzen in einer Felswand.