Ronja Magdziak
Hintergrund

Ausprobiert: Vipassana – das haben 10 Tage Schweigen mit mir gemacht

Zehn Tage schweigend in einem Meditationszentrum zu verbringen, klingt nach einem Trend für ambitionierte Spirituelle, Sinnsuchende – oder Menschen in der Midlife-Crisis. Dabei richtet sich das Angebot an jede und jeden – egal welcher Glaubensrichtung und Meditationserfahrung. Ich habe es getestet, gelitten und genossen.

Vipassana-Meditation, gelehrt von S.N. Goenka, soll schon von Buddha vor rund 2500 Jahren praktiziert worden sein und wird laut Vipassana-Vereinigung e.V. in 245 Meditationszentren (Stand November 2024) weltweit angeboten. Der typische Einstiegskurs umfasst zehn Tage in denen circa zehn Stunden am Tag meditiert und «edle Stille» eingehalten wird.

Das Thema Meditation interessiert mich schon lange. Immer wieder habe ich mithilfe der einen oder anderen App versucht, eine regelmäßige Meditationspraxis aufzubauen – ohne langfristigen Erfolg. Als ich das erste Mal von Vipassana hörte, war ich sofort am Haken. Zum einen, weil ich mich der Herausforderung stellen und zum anderen, weil ich wirklich ein wenig Ruhe ins ständige Grübeln bringen wollte.

Schritt 1: Einen Platz kriegen!

Ich bewarb mich in mehreren Zentren an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt. Denn das Angebot auf Spendenbasis ist beliebt. Anmeldelisten werden zum Teil mitten in der Nacht geöffnet und sind in den frühen Morgenstunden schon voll. Ich musste eventuelle gesundheitliche Einschränkungen angeben, meine Eignung und Motivation darlegen und hoffte immer wieder auf einen Platz. In Nepal hatte ich schließlich Glück. Am 1. Juli 2024 begann mein 10-Tage-Kurs in Kathmandu.

Das Dhamma Kitti Vipassana Center ist eines von 245 Meditationszentren weltweit. Hier habe ich meinen 10-Tage-Kurs «gesessen».
Das Dhamma Kitti Vipassana Center ist eines von 245 Meditationszentren weltweit. Hier habe ich meinen 10-Tage-Kurs «gesessen».
Quelle: Ronja Magdziak

Day 0 – Und dann war es still

Ich war echt nervös. Ich reiste vor dem Kurs durch Indien und traf mehrere Leute, die bereits einen Vipassana-Kurs «gesessen» hatten. Es sei intensiv, wurde mir berichtet. Es sei schlimmer als im Gefängnis. Manche wollten ausbrechen. Dennoch rieten mir alle, es zu machen, es sei «lebensverändernd».

Also bin ich hier, gebe mein Handy, meine Schreibsachen und meine Bücher ab – keine Ablenkungen sind erlaubt. Anfangs darf noch gesprochen werden. Die meisten der circa 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind wie ich zum ersten Mal da, wenige zum zweiten oder sogar dritten Mal. Frauen und Männer getrennt beziehen wir unsere Betten in einem großen Schlafsaal. Nach dem Abendessen noch eine Meditation und dann herrscht Stille.

Das Einhalten der sogenannten «edlen Stille» auf körperlicher und mentaler Ebene soll dabei helfen, den Geist während des Kurses so «rein» wie möglich zu halten und keine neuen positiven oder negativen Gedanken zu entwickeln. In sinnvollen Ausnahmefällen darf aber mit den Kursleitenden und Lehrpersonen gesprochen werden.

Tag 1 – Der Gong läutet um 4 Uhr

Der Gong wird unser stetiger Begleiter. Zum Aufstehen, zum Beginn und zum Ende der Meditation, zum Essen, zum Schlafen. Der Gong gibt den Takt an. Der Gong kommuniziert mit uns. Morgens um 4 Uhr ruft er uns aus dem Bett zur morgendlichen Meditation. Aufzustehen fällt mir überraschend leicht, doch kaum sitze ich in der Meditationshalle, kämpfe ich nur noch gegen den Schlaf. Eine zwei Stunden lange Tortur, in der ich auf meinem Kissen herumzapple, ständig ins Träumen abdrifte und der Sekundenschlaf mich immer wieder fast umwirft. Die rauschende Aufnahme des kehligen Gesangs von S.N. Goenka kündigt das Ende meiner Qual an und ich frage mich zum ersten Mal: Was mache ich hier eigentlich?

Schweigend und zu Boden starrend schleichen wir zum Frühstück. Die Plätze sind so arrangiert, dass man sich nicht gegenübersitzt. Kein Augenkontakt. Es wird in Ruhe gegessen, abgewaschen und weiter meditiert. Einen Teil der nächsten dreistündigen Meditation dürfen wir im Schlafsaal absolvieren. Ich schlafe direkt ein. Auch die restlichen fünf Stunden Meditation des Tages laufen ähnlich erfolglos. Ich bin frustriert.

Jeden Abend sehen wir uns aufgezeichnete Vorträge von S.N. Goenka an, in denen er die Philosophie hinter Vipassana und die Technik genauer erklärt. Seine Worte sind verständnis- und humorvoll, geben mir neue Motivation und helfen, versöhnlicher zu sein. Gleichzeitig ermahnt er zu Ernsthaftigkeit und Fleiß.

Tag 2 – Neuer Versuch

Heute wird es besser, sage ich mir, als ich um 4:30 Uhr wieder auf meinem Meditationskissen sitze. Schätzungsweise um 4:32 Uhr fällt mein Kopf ermüdet nach vorne. Na toll. Auch Tag zwei läuft kaum besser als Tag eins. Immer wieder setze ich mich motiviert hin, doch ich verliere nach wenigen Minuten die Konzentration oder bleibe einfach nur unfassbar müde. Die Essenspausen erlösen mich. Mit einer Teilnehmenden hatte ich mich bei der Ankunft direkt angefreundet. Auch ihr sehe ich die Anstrengung deutlich an. Ich würde sie gern trösten. Es fühlt sich falsch an, nicht füreinander da zu sein.

Tag 3 – Der erste Tiefpunkt

Und es wird nicht besser. Ich bin zwar weniger müde, aber meine Gedanken driften immer wieder unwiederbringlich ab und ich kann einfach nicht stillsitzen. Ich beginne zu verstehen, warum andere diese Erfahrung mit einem Gefängnisaufenthalt vergleichen und ausbrechen wollten. Hinschmeißen kommt für mich zwar nicht in Frage, doch ich beginne die Stunden zu zählen: Noch 70 Stunden Meditation to go …

Tag 4 – Neue Technik, neue Chance

Bisher waren wir angehalten, uns nur auf unseren ein- und ausströmenden Atem zu konzentrieren. Heute werden wir in die «echte» Vipassana-Meditation eingeführt. Wir scannen von Kopf bis Fuß durch jeden noch so kleinen Teil unseres Körpers und sollen dabei unsere Empfindungen genau beobachten, ohne auf sie zu reagieren. Mit der fortgeschrittenen Meditation zu experimentieren, tut gut und gibt meinem Kopf eine neue Aufgabe. Auch wenn meine Gedanken immer noch weit abwandern, gibt mir dieser Tag einen ordentlichen Motivationsschub.

Meditieren sei wie Laufenlernen, sagte eine Lehrerin zu mir, mit ganz viel Übung klappt es irgendwann wie von allein. Für mich ist es bis heute ein Knochenjob.
Meditieren sei wie Laufenlernen, sagte eine Lehrerin zu mir, mit ganz viel Übung klappt es irgendwann wie von allein. Für mich ist es bis heute ein Knochenjob.
Quelle: Ronja Magdziak

Tag 5 – Hatte ich von Motivation gesprochen?

Tatsächlich ist die morgendliche Meditation mittlerweile zu meiner besten geworden und ich kann dem ständigen Drang, mich zu bewegen, immer besser widerstehen, aber so richtig zufrieden bin ich nicht mit mir. Was ist nur los mit mir, dass ich zwei Stunden lang darüber nachdenke, ob ich noch ein neues Sommerkleid brauche, anstatt mich auf die Empfindungen in meinem Körper zu konzentrieren?

Tag 6 – Arbeite gewissenhaft

In den abendlichen Vorträgen betont S.N. Goenka, wie wertvoll diese Zeit ist und dass wir das meiste aus diesem Kurs herausholen sollten. Und was mache ich? Plane einen Beitrag für eine Hochzeit, auf die ich bald gehen werde. Ich dachte, dass mich während der zehn Tage lebenswichtige, tiefsinnige Gedanken beschäftigen würden; und ja, in manchen Sitzungen analysiere ich die Beziehung zu meiner Familie oder einen Streit mit einer Freundin. Doch große, augenöffnende Momente bleiben weiterhin aus.

Tag 7 – Ich bin stark

Heute gelang es mir immer wieder, meine Gedanken und Gefühle mit mehr Abstand zu betrachten, vorbeiziehen zu lassen und präsent zu bleiben. Unterm Strich waren es vielleicht drei von zehn Stunden, aber die liefen wirklich gut. Es fühlte sich wie ein riesiger Durchbruch an. Nach diesen Einheiten schwebe ich wie auf Wolken und fühle mich stark. Ist das diese «innere Freude», die man erfahren soll? Ich weiß es nicht, aber es fühlt sich vielversprechend an.

Tag 8 – Wer ist für dich da, wenn alles im stetigen Wandel ist?

Nachdem ich die Lagen alltäglicher Gedanken endlich mühsam abgetragen habe, kommen schwierigere Gedanken auf mich zu. S.N. Goenka betont in seinen Vorträgen immer wieder, dass alles vergänglich ist, es also nur Leid erschafft, an Dingen, Personen oder Gefühlen festzuhalten. Doch dann trifft es mich wie ein Schlag: Wofür sich dann anstrengen? Was bleibt überhaupt? Und wer ist für mich da? Doch da meldet sich eine kleine Stimme aus meinem Inneren: «Ich bin für mich da.» Auf einmal bin ich beruhigt und voller Zuversicht.

Tag 9 – Hätte das nicht früher passieren können?

Endlich läuft es richtig gut. Ich sitze ruhig in den Meditationseinheiten. Der Gong verkündet die Pause, bevor ich ungeduldig werde. Auch jetzt versinke ich hin und wieder in Tagträumereien, aber das ist okay, finde ich zumindest. Zwei bis drei Stunden am Stück präsent zu meditieren, ist einfach ein Knochenjob. In den Pausen mache ich immer denselben Spaziergang. Alles ist routiniert und friedvoll, es könnte meinetwegen immer so bleiben.

Tag 10 – Kann ich die Stille zurück haben, bitte?

Heute fällt das Schweigegelübde. Ich renne zur Köchin und gestehe ihr meine Liebe, dafür dass ihr Essen mein Lichtblick im harten Meditationsalltag war. Sie spricht kein Englisch, versteht mich aber trotzdem, da bin ich mir sicher.

Um mich herum mutiert alles zu einem Bienenstock. Die vielen Stimmen, Gesten, Blicke überfordern mich. Es dauerte keine zehn Minuten, dass ich mir das Schweigen zurückwünsche. Ich fühle mich gezwungen, mitzureden, Erfolge und Misserfolge mit den anderen zu teilen. Dabei würde ich mich lieber wieder zurückziehen und die Unruhe aussperren. Jetzt sehne ich mich nach Stille.

Tag 11 – War es das wert?

Heute reisen wir alle ab und werden wieder der Realität überlassen. An Meditation war für mich nach Ende des Schweigens nicht mehr zu denken. Mit der Rückkehr des Trubels um mich herum fand ich keine Ruhe mehr. Haben mir die zehn Tage Stille also überhaupt etwas gebracht?

S.N. Goenka empfiehlt, nach dem Kurs mindestens zwei Stunden täglich Vipassana zu praktizieren. Ambitionierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen das tatsächlich hin. Ich gehöre nicht zu ihnen. Dennoch, zwei Monate zurück in Deutschland, merke ich, wie sehr dieser Kurs in mir nachwirkt. Ich bin deutlich ruhiger und kontrollierter. Bahnchaos oder mein unfreundlicher Nachbar bringen mich nicht mehr so leicht auf die Palme.

Hätte man mich an Tag fünf gefragt, ob es die Sache wert sei, hätte meine überzeugte Antwort «auf gar keinen Fall» gelautet. Jetzt hoffe ich, in ein oder zwei Jahren nochmal einen Kurs zu sitzen.

Titelbild: Ronja Magdziak

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