Beziehungsmodelle: «Die Menschen sind experimentierfreudiger geworden»
Monogam zu leben, ist nur ein Beziehungsmodell von vielen. Sexualtherapeutin Dania Schiftan über das gesamte Spektrum an Möglichkeiten und ihre Herausforderungen.
Zwei Menschen, die sich nur einander verschreiben – die Monogamie ist das gängigste, aber auch unflexibelste Modell auf dem Beziehungsmarkt. Weshalb das so ist und über welche Alternativen wir ruhig mehr sprechen dürfen, erfahre ich im Gespräch mit Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan.
Dania, wir haben das letzte Mal über Treue in der Beziehung gesprochen und dabei das Thema Beziehungsformen gestreift. Welche Modelle gibt es da und wie sehen sie konkret aus?
Dania Schiftan: Du steigst gleich mit einer Frage ein, die ich unmöglich genau beantworten kann (lacht).
Weshalb denn das?
In jedem Beziehungsmodell gibt es unendlich viele mögliche Schattierungen. Deshalb skizziere ich dir lieber grob die unterschiedlichen «Spuren», in denen sich Beziehungen generell bewegen können.
Gerne.
Wenn wir von Beziehungen sprechen, denken die meisten als Erstes an eine monogame Beziehung. Menschen, die eine solche Beziehung eingehen, verpflichten sich, ihr Leben mit einem einzigen Partner oder einer einzigen Partnerin zu verbringen. Dabei kann es auch vorkommen, dass jemand heimlich fremdgeht. Das heisst, diese Person ist bloss formal monogam. Dann gibt es die serielle Monogamie, jemand ist immer nur so lange mit einer Person zusammen, bis sie unzufrieden ist. Dann beendet sie die Beziehung, um anschliessend mit jemand anderem eine monogame Partnerschaft einzugehen.
Ich nehme an, das ist auch die Beziehungsform, die dir in deinem Alltag als Sexualtherapeutin am häufigsten begegnet?
Genau. Weniger häufig anzutreffen sind Konzepte wie zum Beispiel die Polyamorie. Sie geht davon aus, dass jemand mit mehreren Menschen gleichzeitig in einer sexuellen als auch in einer Liebesbeziehung sein kann. Hier gibt es wiederum unterschiedlichste Varianten, zum Beispiel: Primärpartner, verschiedene Sekundärpartner und Beziehungen, in denen alle Parteien gleichwertig sind.
Da kann man also ganz schön kreativ werden ...
Richtig, es gibt viele Möglichkeiten der Unterteilung und Definitionsmöglichkeiten. Ein anderes Konzept, das ebenfalls Spielraum zulässt, ist das der offenen Beziehung: Das sind feste Partnerschaften, die Regeln aufstellen, wer mit wem in eine sexuelle Beziehung treten darf.
Jetzt weiss ich auch, weshalb du meintest, du kannst diese Frage unmöglich im Detail beantworten.
Gerade alternative Beziehungsformen wie die Polyamorie oder die offene Beziehung lassen sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten zu. Wie zum Beispiel die Anzahl Partner:innen, die involviert sind. Oder die Frage, wer mit wem wo und wie welche Art von Beziehung eingehen darf. Zudem haben wir hier nur ein paar Modelle gestreift. Dazwischen gibt es noch viele andere zu entdecken.
Das bringt bestimmt einige Herausforderungen mit sich ...
Damit in einer Beziehung, egal welcher Art, alle glücklich sind, braucht es ein hohes Mass an Selbstreflexion, aber auch die Fähigkeit, sich mitzuteilen. Dazu musst du deine eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennen. Je kreativer eine Beziehungsform gelebt wird, desto mehr Energie kostet sie. Je klassischer eine Beziehungsform ist, desto mehr ist sie von der Gesellschaft geprägt und desto mehr Regeln werden von dieser vorgegeben. Das bedeutet, du kannst dich an einer Art Rahmen festhalten, der dir und deinem Partner oder deiner Partnerin vorgibt, was in der Beziehung erlaubt ist und wer welche Aufgaben übernimmt.
Kannst du das genauer ausführen?
Betrachten wir das Ganze mal als Spektrum. Auf der einen Seite steht die klassische, heterosexuelle, monogame Beziehung mit ihrer traditionellen Rollenverteilung. Der Mann geht arbeiten, die Frau kümmert sich um das Haus und den Haushalt. Diese Aufgabenverteilung ist von der Gesellschaft vorgegeben. Das heisst, wenn ich mich für diese Art von Beziehung entscheide, hinterfrage ich mich oder mein Gegenüber weniger. Ich nehme die Rahmenbedingungen und Regeln als gegeben hin. Je weiter ich mich von der einen Seite des Spektrums entferne, also je freier und kreativer meine Beziehungsform ist, desto mehr muss ich mit allen, die an meiner Beziehungskonstellation beteiligt sind, kommunizieren und diskutieren, um die Beziehungsregeln aufzustellen und alle Bedürfnisse abzuholen.
Wie sieht denn das andere Ende des Spektrums aus?
Die komplexeste Form der Beziehung ist sicher ein Gebilde aus verschiedensten Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen, die sowohl in einer Liebesbeziehung als auch in einer sexuellen Beziehung zueinander stehen. Diese Form schliesst nämlich alle möglichen Emotionen und Handlungen mit ein. Ohne Kommunikation ist ein solches Miteinander gar nicht möglich.
Hat deiner Erfahrung nach in den letzten Jahren das Interesse an neuen Beziehungsformen zugenommen?
Die Menschen sind definitiv experimentierfreudiger geworden. Das Thema wird in meinen Therapiesitzungen häufiger angesprochen. Ich finde das grandios, denn es zeigt mir, dass sich die Leute mehr damit auseinandersetzen und merken, dass sie eine Wahl haben und diese auch treffen dürfen. Das sind gute Voraussetzungen für eine erfüllende Beziehung. Wenn sich Paare hingegen passiv, also ohne sich das genau zu überlegen, in eine klassisch verheiratete Paarkonstellation begeben, kann es passieren, dass sie sich keine Mühe mehr geben, sich nicht mehr wahrgenommen fühlen. Sie denken dann: Ich bin jetzt halt verheiratet und es ist, wie es ist.
Der fertige Rahmen als Sündenbock für die eigene Unzufriedenheit.
Dabei heisst das nicht zwingend, dass die monogame Ehe das falsche Modell für solche Paare ist. Eine Paartherapie kann hier aber helfen, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und die Beziehung in eine Richtung zu lenken, die beide als erfüllend wahrnehmen. Generell gilt: Wer sich Gedanken macht, bevor er eine Beziehung eingeht und sich die Möglichkeit gibt, zwischen unterschiedlichen Modellen zu wählen, bleibt eher lebendig, wach und selbstreflektiert. Egal, ob man sich schlussendlich für eine monogame Ehe oder für eine polyamoröse Gruppe entscheidet. Wichtig ist bloss, dass Menschen bewusst entscheiden, was besser zu ihnen passt.
Es gibt also kein Richtig oder Falsch?
So ist es. Für manche ist Exklusivität der Grundstein für eine innige Beziehung. Sie sind überzeugt, dass wahre Intimität nur entsteht, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Person lenken und nicht mit mehreren Teilen. Andere wiederum argumentieren, dass sie sich, gerade weil sie sich mit mehreren Personen auseinandersetzen, nur auf jene einlassen, mit denen sie auch wirklich zusammen sein möchten. Beide Argumentationen machen meiner Meinung nach Sinn.
Was passiert, wenn mir mein gewähltes Modell nicht mehr zusagt?
Das geschieht oft und ist auch gut so, weil wir uns ein Leben lang verändern. Manchmal ist es das Modell, das nicht mehr passt, manchmal bloss ein gewisser Aspekt oder die Art und Weise, wie sich eine Beziehung eingependelt hat. Dann kommen Paare zu mir in die Praxis, um mit meiner Unterstützung eine neue Form der Beziehung auszuarbeiten, die für beide passt. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn sich die Lebensumstände geändert haben. Ich hatte neulich ein Paar bei mir, das per Definition eine offene Beziehung führte. Das heisst, beide durften ihre Sexualität mit anderen Menschen ausleben, bloss die Partnerschaft zwischen ihnen war exklusiv. Dann wurde sie schwanger und hat gemerkt, dass sie sich mit dieser Einigung nicht mehr wohlfühlt. Ein anderes heterosexuelles Pärchen, das ich begleitet habe, führte nebenher homosexuelle Partnerschaften. Nach einer Krebsdiagnose wollte der Mann das nicht mehr.
Woran liegt es, dass viele ihre Beziehungen heute mehr hinterfragen als früher?
Einerseits greifen die Medien diese Themen häufiger auf, andererseits hat es mit sozialen Veränderungen zu tun: Die Menschen verstehen langsam, dass man mehr als nur Liebe begehren kann und jemanden lieben kann, ohne diese Person zu begehren. Dass man sexuelle Beziehungen von der Liebesbeziehung trennen darf, wenn man das möchte. Wir sehen die Schattierungen, wodurch alternative Formen sexueller Beziehungen auf mehr Akzeptanz stossen. Generell wird mehr über die Sexualität als solche gesprochen. Zudem sind wir heutzutage finanziell gesehen nicht mehr so abhängig von anderen Personen, können über andere Wege Kinder bekommen und Familien gründen. Das sind alles Vereinfachungen, die uns neue Möglichkeiten eröffnen und dafür sorgen, dass Menschen, die sich das vorher nicht erlauben konnten, heute kreativer und mehr im Reinen mit sich selbst sind.
Welchen Vorurteilen begegnen Menschen, die sich für eine alternative Beziehungsform entscheiden?
Vorurteile gibt es viele und zwar von allen Seiten. Die stärksten erlebe ich jedoch, wenn Kinder involviert sind. Dann werden die Leute sehr negativ angegangen, weil viele der Meinung sind, es wäre für ein Kind schädlich, wenn die Eltern in alternativen Beziehungskonstellationen leben. Meiner Meinung nach muss das überhaupt nicht der Fall sein. Solange es liebevolle Eltern sind, die achtsam mit ihren Kindern umgehen, sollte die Beziehungsform keine Rolle spielen.
Dania Schiftan arbeitet seit 14 Jahren als Sexologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis in Zürich. Zudem ist sie auch als Psychologin bei Parship tätig. Mehr über sie und ihren Job erfährst du im Interview mit ihr:
Alle weiteren Beiträge aus der Serie findest du hier:
Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.