Bunte Pulver, Kapseln und Tabletten: Wer Nahrungsergänzung wirklich braucht (und wann)
Hintergrund

Bunte Pulver, Kapseln und Tabletten: Wer Nahrungsergänzung wirklich braucht (und wann)

Annalina Jegg
28/9/2022

Vitamin-A-Kapseln, Eisentabletten, Vitamin-C-Pulver: Nahrungsergänzungsmittel gibt es inzwischen gefühlt wie Sand am Meer. Aber was davon brauchen wir wirklich? Wir haben uns unter drei Expertinnen umgehört.

In der Schweiz nimmt jede und jeder Zweite Nahrungsergänzungsmittel zu sich, schreibt das BLV, das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. Dabei wissen wir wenig über die bunten Pulver, Kapseln und Tabletten. Trotzdem: Viele schwören darauf. Andere verteufeln sie. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Wir gehen dem Ernährungstrend Nahrungsergänzung auf den Grund. Spoiler: Selbstmedikation ist keine gute Idee. Doch von vorne:

Warum erleben Nahrungsergänzungsmittel einen solchen Hype?

«In den letzten Jahren hat sich Gesundheit als Megatrend tief in unserem Bewusstsein verankert und ist zum Synonym für hohe Lebensqualität geworden», sagt Ernährungswissenschaftlerin Dr. Marlies Gruber. Kein Wunder also, dass das Geschäft mit den bunten Kapseln boomt: In der Schweiz beträgt der Umsatz im Segment Vitamine & Mineralstoffe 2022 etwa 109,20 Millionen Euro, berichtet statista.com. Für 2027 wird ein Marktvolumen von 135,7 Mio. prognostiziert, was einem jährlichen Umsatzwachstum von gut vier Prozent entspricht. Auch im Nachbarland Deutschland sind Nahrungsergänzungsmittel beliebt und werden immer öfter gekauft, nicht zuletzt wegen Corona: In der Pandemie seien die Umsätze der Branche von etwa 1 auf 1,6 Milliarden Euro gestiegen, weiß Daniela Krehl, Sprecherin der Verbraucherzentrale Bayern.

Aber hast du das gewusst: Tabletten und Pillen dürfen eigentlich gar nicht gesund machen? «Das dürfen nur Arzneimittel, deren Wirkung und Wechselwirkungen durch Studien belegt sind», sagt Verbraucherschützerin Krehl. Nahrungsergänzungsmittel hingegen gelten als Lebensmittel. Welche Gesundheitsversprechen Hersteller aufs Etikett drucken dürfen und welche nicht, regelt darum in der EU die sogenannte Health-Claims-Verordnung. Auch in der Schweiz wird mit Health Claims gearbeitet.

Keine staatliche Zulassungsprüfung für Nahrungsergänzung

Nahrungsergänzungsmittel werden natürlich auch übers Internet angeboten – teils mit Inhaltsstoffen, die in der EU und in der Schweiz nicht zugelassen sind. Was aber viel gravierender ist: Für Lebensmittel – und damit auch für sämtliche Nahrungsergänzungsmittel – gibt es keine Zulassungsprüfung und keine staatliche Kontrolle im DACH-Raum. Expertin Krehl erklärt es an einem Beispiel: «Eine Wurst muss ich nicht zulassen, die kann ich einfach verkaufen, sofern ich nachweisen kann, dass sie nicht gesundheitsgefährdend ist.» Dasselbe gelte für Nahrungsergänzungsmittel.

Und das ist ein großes Problem, das die Länder seit Jahren beschäftigt. Ernährungswissenschaftlerin Dr. Marlies Gruber betont: «Bis heute gibt es in der EU keine einheitlichen Höchstmengen für Mikronährstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln.» Die Gefahr dabei: Manche Stoffe in Nahrungsergänzungsmitteln können durchaus gesundheitsgefährdend wirken, sofern sie von den Verbraucherinnen und Verbrauchern überdosiert werden. In der Schweiz gibt es seit Mai 2020 ein Höchstmengenmodell. Wer dort hineinliest, schlussfolgert angesichts der komplexen Daten schnell: Einfach so Pulver oder Pillen einzunehmen, ohne Begleitung durch Fachleute, sollte man tunlichst sein lassen.

Wir halten fest: Nahrungsergänzungsmittel sind ein komplexes Thema und eine echte Herausforderung, sowohl für dich als Verbraucherin oder Verbraucher als auch für die Behörden.

Risiken: Das kann ein Missbrauch von Nahrungsergänzung anrichten

Bist du noch aufnahmefähig? Gut! Machen wir weiter: Wechselwirkungen mit anderen Stoffen und Medikamenten sind noch nicht ausreichend erforscht. Auf der Seite klartext-nahrungsergänzung.de der Verbraucherzentralen erfährst du von A wie Alpha-Liponsäure über M wie Magnesium bis hin zu Z wie Zink, welche bisher bekannten Wechsel- und Nebenwirkungen und Gegenanzeigen welche Nahrungsergänzungsmittel im Einzelnen haben.

Die wohl gravierendste Gefahr von Nahrungsergänzung ist aber folgende: die unbeabsichtigte Überdosierung bestimmter Stoffe. Dazu muss man wissen, dass sich unsere 13 bekannten Vitamine in zwei Gruppen einteilen lassen. In die Gruppe der wasserlöslichen Vitamine gehören Vitamin C und alle B-Vitamine. Diese scheidet der Körper über die Nieren und letztlich den Urin aus, wenn wir zu viel davon erwischt haben. Heißt: Eine Vitamin-C-Überdosierung richtet bei gesunden Menschen nicht viel Schaden an. Menschen mit Nierenunterfunktion sollten allerdings vorsichtig sein.

Anders ist es mit den Vitamine A, D, E und K. Diese gehören in die Gruppe fettlöslicher Vitamine – und können sich im Körper anreichern und gehörig Schaden anrichten. Das gilt übrigens auch für Mineralstoffe. Dr. Anna Kreil, Fachärztin für Innere Medizin nennt ein konkretes Beispiel, was zu viel vom Guten bewirken kann: «Wer Vitamin A überdosiert, riskiert zum Beispiel Augenprobleme und Leberversagen», sagt die Medizinerin. Sie sagt aber auch: Wer nicht alle möglichen Kombipräparate eigenmächtig und in massiven Mengen zu sich nimmt, müsse vor einer Überdosierung keine Angst haben. Ihr Rat: Halte dich am besten immer an die empfohlene Dosis, die du von Arzt oder Ärztin verschrieben bekommen hast.

Abwechslungsreich essen bringt dich weit

«Deine Nahrung soll deine Medizin sein», sagte schon Hippokrates – jener Arzt aus der griechischen Antike, der als Urvater der modernen Medizin gilt. Und das raten seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auch heute noch: «Die beste Versorgung mit allen Nährstoffen erzielt, wer sich ausgewogen und nicht einseitig ernährt», sagt Internistin Anna Kreil. Also nicht immer dasselbe essen. Denn unterschiedliche Lebensmittel enthalten unterschiedliche Zusammensetzungen von Nährstoffen. Und genau diese Abwechslung braucht der Körper.

Da wir nicht in einem Mangelland leben, können wir also getrost zugreifen und aus einer Vielzahl von natürlichen Gesundmachern wählen. Lebensmittel haben gegenüber angereicherten Pillen und Pulver einen entscheidenden Vorteil: Sie enthalten meist gleich mehrere gesunde Inhaltsstoffe auf einmal. Beispiel Hering: In ihm steckt nicht nur eine gehörige Portion gesunder Omega-3-Fettsäuren, sondern auch viel Vitamin B5 und B12 sowie Vitamin D und Biotin.

Chancen: Hier ist Nahrungsergänzung sinnvoll

Doch einfach verteufeln lassen sich Nahrungsergänzungsmittel natürlich nicht, denn: Menschen mit bestimmten Krankheiten, in besonderen Lebenssituationen, mit bestimmten Ernährungsgewohnheiten oder gestörter Stoffaufnahme (Resorption) profitieren durchaus von Nahrungsergänzung. Wenn also medizinische Indikationen vorliegen und Arzt oder Ärztin grünes Licht geben, ist eine Substitution mit Tropfen, Pulver oder Tabletten sehr wohl das Mittel der Wahl.

Medizinerin Kreil zählt auf: «Beispielsweise Frauen in den Wechseljahren, Osteoporosepatienten, Menschen mit Knochenproblemen oder Resorptionsstörungen, chronisch Kranke, Menschen, die kein Sonnenlicht vertragen oder Nierenprobleme haben.» Außerdem Schwangere und ältere Menschen.

Ausserdem: Wer sich vegan ernährt, bekommt das Vitamin B12 nicht in ausreichender Menge über die Nahrung – man muss dieses mit Präparaten ergänzen, da sonst Mangelerscheinungen drohen. Gerade bei Kindern muss besonders darauf geachtet werden. Übrigens: In der Schweiz substituieren laut Umfragen rund 80 Prozent aller Veganerinnen und Veganern Vitamin B12.

Schwangeren wiederum wird nicht ohne Grund zur Einnahme von Folsäure-Supplementen geraten, da diese das Risiko für sogenannte Neuralrohrdefekte senkt, wie etwa den sogenannten offenen Rücken bei Neugeborenen.

Vitamin D: Im Winter für fast alle als Supplement ratsam

Bei älteren Menschen sind sich die einschlägigen Fachgesellschaften einig: Sie sollten auf jeden Fall Vitamin D zu sich nehmen, denn im höheren Alter kann die Haut nicht mehr so gut Vitamin D übers Sonnenlicht bilden. Diese Fähigkeit kann im Vergleich zum jüngeren Menschen sogar auf weniger als die Hälfte reduziert sein, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.

In der Schweiz geht man sogar noch einen Schritt weiter und empfiehlt Vitamin-D-Präparate für eine weitaus größere Bevölkerungsgruppe. So schreibt das BLV: «Aufgrund der geographischen Breite der Schweiz und der damit verbundenen ungenügenden Sonnenbestrahlung haben rund 60 Prozent der Bevölkerung in den Wintermonaten eine unzureichende Vitamin-D-Versorgung. «Daher rät die Behörde nicht nur Schwangeren, Stillenden, Babys, Kleinkindern und älteren Menschen zu Vitamin-D-Supplementen im Winter, sondern empfiehlt auch Personen im Alter zwischen drei und 60 Jahren, auf vermehrte Vitamin-D-Zufuhr zu achten. Diese könne entweder über die Ernährung, über mit angereicherte Lebensmittel oder eben über Supplemente geschehen.

Wer jetzt konkrete Zahlen braucht, wenn er sich die Ergebnisse seines nächsten Blutbilds anschaut: Von einem schwerwiegenden Vitamin-D-Mangel spricht das BLV bei einer (25(OH)DKonzentration von < 25 nmol/l oder < 10 ng/ml.

Fazit

Nahrungsergänzung ist oft gar nicht nötig aber auch nicht per se schlecht. Eher diese drei Dinge: der Hype, der darum unhinterfragt gemacht wird, die fehlenden staatlichen Kontrollen plus die Gefahren, über die viel zu wenige Verbraucherinnen und Verbraucher informiert sind.

Darum gilt für uns alle: Einmal im Jahr ein Blutbild machen lassen, das zeigt, was du brauchst. Das gilt besonders, wenn du einen Mangel vermutest oder schon einmal hattest. Aber natürlich auch zur Vorbeugung oder um einfach sicherzugehen, dass du keinen Mangel hast. Arzt oder Ärztin erkennen, ob und welche Nährstoffe in welcher Menge in welchem Zeitrahmen du supplementieren solltest – wenn überhaupt. Manchmal ist eine Ernährungsumstellung (oder viel Sonne tanken, aber bitte mit Sonnenschutz!) das bessere Rezept.

Nahrungsergänzungsmittel: Was ist was? Begriffe im Überblick

Nährstoffe sind organische und anorganische Stoffe, die wir zum Überleben brauchen und im Stoffwechsel verarbeiten. Dazu gehören unter anderem Kohlenhydrate, Fette, Proteine, Mineralstoffe und Vitamine.

Mineralstoffe sind anorganische Nährstoffe. Unterschieden werden sie in Mengenelemente (Kalzium, Kalium, Magnesium, Natrium, Phosphor, Schwefel und Chlor) und Spurenelemente (Kobalt, Eisen, Iod, Kupfer, Mangan, Selen, Zink, Molybdän). Es existieren noch weitere Spurenelemente, bei denen noch ungeklärt ist, ob sie für uns essenziell sind (wie Bor, Fluor und Arsen).

Vitamine sind für uns lebenswichtige, organische Verbindungen. Wir kennen 13 Vitamine: A, C, D, E, K und acht B-Vitamine (B1, B2, B3, B5, B6, B7, B9, B12). Zu den wasserlöslichen Vitaminen zählen Vitamin C und alle B-Vitamine – bei einer Überdosierung scheidet der Körper diese aus und sie können bei gesunden Menschen in der Regel keinen Schaden anrichten. Zu den fettlöslichen Vitamine zählen Vitamine A, D, E und K. Diese können bei einer eigenmächtigen Überdosierung gesundheitsschädigend wirken, da sich diese Vitamine im Körper anreichern.

Vitalstoffe sind sekundäre Pflanzenstoffe, die nicht essenziell sind, aber positiv auf unseren Körper wirken können. Beispiel: Lupin ist ein Stoff, der zum Beispiel in der Tomate vorkommt und möglicherweise krebsvorbeugend wirkt. (Die Forschung ist sich diesbezüglich noch uneins.)

33 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar
Annalina Jegg
Autorin von customize mediahouse

Mich buchstabiert man so: Aufgeschlossen, Nachdenklich, Neugierig, Agnostisch, Liebt das Alleinsein, Ironisch und Natürlich Atemberaubend.
Schreiben ist meine Berufung: Mit 8 habe ich Märchen geschrieben, mit 15 «supercoole» Songtexte (die nie jemand
zu lesen bekam), mit Mitte 20 einen Reiseblog, jetzt Gedichte und die besten Beiträge aller Zeiten! 


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar