Dein Kind glaubt noch ans Christkind? Warum es (nicht) okay ist, zu lügen
Die Weihnachtsgeschenke bringt das Christkind und der Samichlaus wohnt im tiefen Wald. So glauben das meine Kinder. Sollten sie nicht die Wahrheit erfahren?
Unsere Familie lebt mit einer Lüge. Zwei Personen wissen das, zwei haben keine Ahnung. Noch. Heuer wäre die Wahrheit um ein Engelshaar ans Licht gekommen.
Die Ältere ist jetzt knapp siebenjährig und besucht die Primarschule. Dort weiss die Mehrheit Bescheid. Es hätte mich also null erstaunen sollen, als sie vor einigen Tagen beim Mittagessen ausführte: «Mami, der Samichlaus, der heute in die Schule kam, war kein richtiger.»
Boom. Es ist soweit, sie hat den Weihnachtsbraten gerochen. Was soll ich ihr bloss antworten? Dass das Quatsch sei? Dass nun Zeit für die Wahrheit sei, aber nicht in Anwesenheit ihrer kleinen Schwester?
Ausgerechnet die Tochter selbst rettete mich vor einer Antwort. «Eigentlich ja logisch, dass nicht der richtige Samichlaus da war. Der hat gerade so viel anderes zu tun.» Offenbar hat sie sich längst eine eigene Erklärung zurechtgesponnen. In Gedanken wischte ich mir die Schweissperlen von der Stirn. Und kam nach dem Mittagessen doch gehörig ins Grübeln.
Lügen für den guten Zweck?
Da bläuen wir unseren Kindern tagtäglich ein, aufrichtig und ehrlich durchs Leben zu gehen und nehmen es selbst mit der Wahrheit nicht so genau. Eine Liste der bekanntesten und lustigsten Alltagslügen habe ich bereits in einem früheren Beitrag festgehalten.
Seien wir doch ehrlich. Auch mit Biegen und Brechen lassen sich die Feiertagsflunkereien nicht in die Kategorie «Notlügen» pressen. Dass der Osterhase die Eier versteckt, das Christkind die Geschenke bringt und der Samichlaus in seiner Waldhütte lebt, ist mehr als bloss eine Schwindelei.
Es ist eine regelrechte Verschwörung.
Da werden die Kinder täglich daran erinnert, dass die Vögelchen dem Samichlaus alle ihre Unartigkeiten zwitschern, dem Osterhasen werden als Bestechung Karotten hingelegt und Wunschzettel werden auf dem Fenstersims unters Mandarinli geklemmt. Erwachsene Menschen schleichen sich nachts in den Garten, um Eier in der Hecke zu verstecken. Und die gleichen Erwachsenen kleben sich ein paar Monate später einen weissen Bart ins Gesicht, um den Kindern mit aufgesetzt tiefer Stimme die Leviten zu verlesen.
Hohoho, ist das nicht völlig absurd? Jede Hollywood-Produktion kann da einpacken.
Kein Wunder, zieht der jahrelange Betrug am Ende oft eine bittere Enttäuschung nach sich. Genau deshalb plädieren der englische Psychologe Christopher Boyle und seine australische Kollegin Kathy McKay für ein Lügen-Verbot. Die Geschichten über Santa Claus würden Kinder traumatisieren, so die Experten in ihrem wissenschaftlichen Essay «A wonderful Lie» im Jahr 2016. Sie würden das kindliche Grundvertrauen regelrecht erschüttern. Denn wenn Mami und Papi hier gelogen haben, wo denn sonst noch? Würden die Eltern dagegen von Anfang an auf die Weihnachtslüge verzichten, würde die grosse Enttäuschung ausbleiben, so ihre These.
«Christmas Grinchs» wurde das Psychologen-Duo in der Folge bezeichnet, ihre Aufforderung sorgte damals für eine emotionale öffentliche Debatte. Der Tenor ihrer Gegnerinnen und Gegner: Die Weihnachts-Illusion sei ein wichtiger Bestandteil jeder Kindheit. Das Vertrauen in die Eltern würde ausserdem von vielen anderen Faktoren abhängen.
Der Moment, als Weihnachten seinen Zauber verlor
Ich versuche, mich zurückzuerinnern, wie ich selbst damals auf den harten Boden der Realität geholt wurde. Es war ausgerechnet am Morgen des Weihnachtstages, ich war ungefähr sieben, als mich meine Cousine ins grosse Christkind-Geheimnis einweihte. Keine Sekunde zweifelte ich an ihrer Version, plötzlich ergab alles einen Sinn. Weshalb meine Mutter an Heiligabend immer zu Hause blieb, wir aber erst abends in die Wohnung zurück durften. Warum der Familienfreund kurz vor dem Auftauchen des Weihnachtsmannes immer verschwand. Weihnachten verlor nullkommaplötzlich seinen Zauber und ich erinnere mich, wie sehr ich mir in diesem Moment wünschte, die Wahrheit nicht erfahren zu haben.
Trotzdem: Hätte ich die Wahrheit von Anfang an wissen und auf die schöne Illusion verzichten wollen? Nein. Machte ich meinen Eltern deswegen jemals Vorwürfe? Nein. Hab ich in der Folge meinen eigenen Kindern direkt die Wahrheit aufgetischt? Nein.
Die Geschichte vom Christkind und Osterhasen gehört doch zu unserer Kindheit. Und selbst ins Erwachsenenleben, wenn wir sehr wohl zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Warum sonst sitzen wir Jahr für Jahr wieder träumend vor dem kitschigen Weihnachtsfilm «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel»?
Genau diese Erkenntnis brachten aber auch die beiden «Grinch-Psychologen» zutage: Hinter der Weihnachtslüge stecke vor allem der Wunsch der Eltern, den eigenen Zauber aus der Kindheit für einen kurzen Moment wieder aufleben zu lassen. Oder anders ausgedrückt: In Wahrheit ziehen wir die Nummer mit dem Christkind nur für uns selbst durch. Uff.
Doch selbst wenn. Offenbar behalten wir die Weihnachtslüge so gut in Erinnerung, dass wir sie als Erwachsene nochmals erleben möchten. Mehr noch: Wir wollen, dass unsere Kinder eine ähnlich schöne Erinnerung haben. Wäre die Sache tatsächlich nachhaltig erschütternd für uns gewesen, würden wir sie unseren Kindern kaum antun wollen.
Eine Frage der Perspektive
Nun, diesmal sind mein Mann und ich sowieso noch einmal glimpflich davon gekommen. Spätestens nächstes Jahr wird wohl die Stunde der Wahrheit schlagen. Irgendwie stelle ich’s mir inzwischen aber sogar schön vor, meinem Kind zu erzählen, dass die Geschichte vom Christkind dazu da ist, Freude an Weihnachten zu verbreiten.
In Wahrheit ist es doch gar keine Weihnachtslüge. Es ist ein schönes Weihnachtsmärchen.
Titelfoto: Katja FischerAnna- und Elsa-Mami, Apéro-Expertin, Gruppenfitness-Enthusiastin, Möchtegern-Ballerina und Gossip-Liebhaberin. Oft Hochleistungs-Multitaskerin und Alleshaben-Wollerin, manchmal Schoggi-Chefin und Sofa-Heldin.