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Drei Jahre Krieg in der Ukraine – wofür?
Seit drei Jahren tobt der Krieg in der Ukraine. Welche Gründe hatte Wladimir Putin, Russlands Nachbarland anzugreifen? Was bezweckt er damit? Wohin soll das führen? Selbstverteidigung? Ressourcen? Macht? Fragen über Fragen. Ich habe Antworten gesucht und dafür verschiedene Fachbücher zu Rate gezogen.
Am 24. Februar 2022 startete Russland einen grossangelegten militärischen Angriff auf seinen Nachbarn Ukraine. Vor drei Jahren eskalierte der russische Präsident Wladimir Putin den russisch-ukrainischen Konflikt zu einem Krieg. Der vorherige Konflikt schwelte bereits seit der Annexion der ukrainischen Schwarzmeerhalbinsel Krim im Jahr 2014 durch Russland.
«Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden»
Wer die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine in den Medien verfolgt, dürfte bemerkt haben, dass etwa das Schweizer Radio und Fernsehen SRF bei seinen Beiträgen sehr oft den Disclaimer verwendet: «Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.» Für den interessierten Laien stellt das eine grosse Hürde dar, sich selbst ein einigermassen klares Bild der Vorkommnisse zu machen. Korrespondenten vor Ort schaffen zumindest teilweise Abhilfe.
In Europa ist man sich zwar in weiten Teilen der Gesellschaft zumindest darüber einig ist, dass Russland der Aggressor ist und die Ukraine das Opfer, das man bei der Verteidigung so gut wie möglich unterstützen muss. Doch gibt es sehr wohl ganz unterschiedliche Meinungen über das Wie dieser Unterstützung. Über die Schuld- oder Verantwortungsfrage für den Krieg gibt es hingegen global, aber auch in Europa ebenfalls verschiedene Meinungen und es existiert nicht einfach eine geschlossene Front gegen Russland und Putin.
Mehr Tiefe als schnelllebige Medien
In drei Jahren offenem Krieg habe ich, neben der täglichen Aktualität, vor allem versucht, mir ein tiefergehendes Bild der Lage, vor allem aber auch der Entstehungsgeschichte des zum Krieg ausgearteten Konfliktes zu machen. Geholfen haben mir dabei vor allem einige Fachbücher. Fachbücher von Menschen, die Russland und die Ukraine, deren Geschichte und die Mechaniken von Macht und Konflikt kennen und durch langjährige Auseinandersetzung damit verstehen. Journalistinnen, Historiker, Militärstrategen, Politikerinnen und Fotografen, die mir verschiedene Blickwinkel zeigen können, um besser zu verstehen.
Hier sind einige Bücher, die mir geholfen haben und noch helfen sollen, zu verstehen welche Gründe und Motive die Akteure antreiben, was in den Ländern geschieht, wie die Menschen dort denken und leben:
Tim Marshall, «Die Macht der Geografie»

Der britische Journalist Tim Marshall ist ein vielfach ausgezeichneter Experte für Aussenpolitik. Er war Korrespondent für die BBC und hat aus Konfliktregionen auf der ganzen Welt berichtet. In «Die Macht der Geografie» beleuchtet er zehn Weltregionen und erklärt anschaulich, welchen Einfluss die natürlichen Voraussetzungen der Regionen wie Gebirge, Meeresanstoss, Flüsse, Wüsten, das Klima, schiere Grösse oder vorhandene Ressourcen auf die Sicherheits- und Machtpolitik der Länder haben. Gleich im ersten Kapitel analysiert Marshall Russland und wie sich etwa die Ausdehnung oder das Fehlen von ganzjährig schiffbaren Hochseehäfen auf die russische Expansionspolitik der letzten 250 Jahre ausgewirkt haben. Und es heute noch tut. Man muss nach der Lektüre Wladimir Putins Strategie in der Ukraine nicht gutheissen, aber man bekommt ein Verständnis dafür, warum die Ukraine für Putin und Russland von so grosser Bedeutung ist.
Luzia Tschirky, «Live aus der Ukraine»
Luzia Tschirky war lange Jahre die Auslandskorrespondentin des SRF in Russland. Nach Kriegsausbruch berichtete Tschirky während der ersten rund anderthalb Jahre aus der Ukraine, besuchte Kriegsgebiete im Osten des Landes, begleitete militärische Einheiten und zeigte, wie das Leben der Bevölkerung unter der ständigen Bedrohung durch russische Angriffe aussieht. Tschirky beschreibt in ihrem Buch die Lage der Menschen in der Ukraine so, wie sie das bereits als TV-Journalisten getan hat. Sehr nah dran und spürbar von der eigenen Haltung geprägt. Man mag das einer Journalistin ab und zu verbitten, sollte sie doch möglichst neutral über das Geschehen berichten. Ich finde es authentisch, dass die Geschichten, die sie erzählt, sie nicht kalt lassen und sie grundsätzlich Partei ergreift. Dennoch, und diesen Eindruck hatte ich bereits bei ihren TV-Reportagen und -Auftritten, schätzt sie Russland und Putin eher zu schwach ein. Alles in allem gibt die Lektüre aber einen starken Einblick ins Leben der Menschen in einem kriegsversehrten Land.
Boris Bondarew, «Im Ministerium der Lügen»
Einen besseren, unverstellteren und direkteren Einblick ins Innere des russischen Machtapparates und die Aussenpolitik Wladimir Putins als durch Boris Bondarews «Im Ministerium der Lügen» bekommt man hierzulande wohl nicht. Bondarew war 20 Jahre lang Mitarbeiter des russischen Aussenministeriums und quittierte drei Monate nach der russischen Invasion in der Ukraine 2022 seinen Dienst – wegen der Invasion. Der Ex-Diplomat ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen. Ins Innere des russischen Staatsapparates, der von Korruption und autoritären Strukturen durchdrungen ist. Er sucht aber auch nach Perspektiven für Russland über den Krieg in der Ukraine und die Herrschaft von Putin hinaus. Und er verliert auch nicht den Blick aufs grosse Ganze, die europäische und die globale Perspektive.
Alexej Nawalny, «Patriot»
Etwas mehr als ein Jahr nach seinem ungeklärten Tod in russischer Gefangenschaft scheint der Name Alexej Nawalny in Russland kaum noch geläufig. Oder zumindest scheint niemand öffentlich bereit, über den bekanntesten Oppositionellen und erklärten Gegner Wladimir Putins zu sprechen. Das zeigte kürzlich eine Umfrage der Nachrichtenagentur AFP. Nawalnys posthum publizierte Autobiografie «Patriot» gibt Einblick in seinen Kampf gegen den Staatsapparat und gegen Putin. Vor allem aber in die letzte Zeit seines Lebens in Russischer Gefangenschaft. Und auch wenn Nawalny vor allem sein eigenes Leben, seinen Kampf und seine Perspektive erzählt, bekommt man doch auch ein Gefühl für das System Russland, oder besser für das System Putin.
Anna Politkowskaja, «In Putins Russland»
Wer glaubt, Putin habe sich erst in den letzten Jahren durch eine gefühlte oder reale Bedrohung durch die USA, die Nato, «den Westen» ganz generell zu einem autoritären Herrscher entwickelt oder aus Angst und Selbstverteidigung den Krieg in der Ukraine gestartet, sollte dringend Anna Politkowskajas «In Putins Russland» lesen. Die russische Journalistin beschreibt bereits 2005 Wladimir Putins «autokratische, autoritäre und menschenverachtende Politik». Und sie bezahlte den höchsten Preis: am 7. Oktober 2007 wurde Politkowskaja Opfer eines Mordanschlags. Wer dafür verantwortlich war, ist bis heute ungeklärt. Einzig, dass die russischen Untersuchungsbehörden keine ausreichenden Anstrengungen unternommen hätten, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Verstehen wie Putin denkt, kein Verständnis für seine Handlungen
Einige dieser Bücher habe ich bereits ganz gelesen, andere zumindest diagonal. Vieles habe ich daraus bereits gelernt. Fragen wurden beantwortet, neue aufgeworfen und viele auch nicht beantwortet.
Ich verstehe nun besser, woher Putin kommt, wie er womöglich tickt und denkt. Meine Einschätzung der Person und der Situation hat sich dadurch nicht geändert, im Gegenteil.
Wenn du dir ein eigenes Bild machen willst, das durch die Schnell-vor-genau-Berichterstattung vieler Medien schlicht nicht vermittelt werden kann, ist das eine oder andere dieser Bücher sicher ein guter Einstiegspunkt.
Falls du doch lieber auf aktuelle Medien-Berichterstattung zur Information setzen willst, empfehle ich dir zum Beispiel das Archiv der «Sternstunde Philosophie» des Schweizer Fernsehens anzuschauen. Dort findest du zahlreiche Gespräche mit verschiedenen Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich mit dem Krieg in der Ukraine, Russland und Wladimir Putin oder den Bedingungen für einen künftigen Frieden befassen.
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Weltenbummler, Wandersportler, Wok-Weltmeister (nicht im Eiskanal), Wortjongleur und Foto-Enthusiast.