Tabak und Schokolade
Deutsch, Martin R. Dean, 2024
In «Tabak und Schokolade» verhandelt Martin R. Dean die Auswirkungen von Kolonialismus, alltäglichen Rassismus und eine bittere Familiengeschichte. Ein Buch zum Nachdenken und Mitleiden.
Rügen, London, Menziken im Aargau, Trinidad, Indien und ein bisschen Schottland. Es sind diese Namen, diese Orte, denen entlang das Leben von Martin R. Dean und das seiner Vorfahren gelebt, erlitten, erduldet wurde. Es sind diese Orte, die Dean in seinem autobiografischen Roman «Tabak und Schokolade» besucht. In seinen Erinnerungen, in Erzählungen seiner Verwandten, auf Fotos in einem alten Album seiner verstorbenen Mutter.
Mit dem Tod der Mutter fängt Deans Suche und Reise an. Die Reise zu seiner eigenen Vergangen- und Kindheit auf der Karibikinsel Trinidad, woher sein Vater stammte. Der leibliche Vater, den seine Mutter mit dem kleinen Sohn verliess, nachdem er sie im Suff geschlagen hatte. Der leibliche Vater, dessen Existenz die ganze Schweizer Seite der Familie seit gut 50 Jahren verdrängt, verleugnet und letztlich aus ihrem Leben getilgt hat.
Dean schreibt in einer dichten, präzisen und bildhaften Sprache über seine Erinnerungen an die Mutter und seine Grosseltern. Vor allem über die Grossmutter, zu der er eine innige Beziehung hatte. Jedes Wort eine Note, jeder Satz eine Melodie, die sich zu einer grandiosen Symphonie über Kolonialismus und Rassismus zusammensetzen. Musiziert wird auf einer multikulturellen und multiethnischen Karibikinsel ebenso wie in einem kleinen Schweizer Dorf.
Eine Komposition in Moll. Denn so schön, so elegant die Sprache verflochten sein mag, so bitter, ja verbittert, klingt die Gefühlswelt des Erzählers. Ausser von den Grosseltern scheint er weder in der Schule, noch im Dorf, noch in der Familie akzeptiert, geschweige denn gewollt gewesen zu sein. Nicht brutaler könnte das ausgedrückt sein, als in den lakonischen Worten des Willensvollstreckers nach dem Tod der Mutter: «Sie sind wohl nie adoptiert worden», deshalb sei er nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen.
So verlässt er das Haus der Mutter und des ebenso längst verstorbenen Stiefvaters, die «Betonvilla» im kleinen Aargauer Dorf Menziken, nur mit einem alten Fotoalbum seiner Mutter. Dieses Album bildet den Ausgangspunkt für Deans Reise in die eigene Vergangenheit. Eine Reise, die er zuerst im Kopf anhand der Fotos beginnt und schliesslich in Trinidad fortsetzt. Verwandte seines leiblichen Vaters kennenlernt und sich die vielschichtige Geschichte seiner ursprünglich aus Indien stammenden Familie erzählen lässt. Eine Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei, Erniedrigung, Aufstieg, Vergewaltigung, Macht und Ohnmacht.
Die Reise führt aber auch in die ländliche Schweiz der 1960er und 70er Jahre. Die Jahre der Saisonniers, vornehmlich aus Italien. Die Jahre rund um die ausländerfeindliche Schwarzenbach-Initiative und die Bemühungen der Grossmutter, zugewandert aus Rügen, und der Mutter, gezeichnet mit einem Sohn und einem Mann aus der Karibik, schweizerischer als die Schweizer zu leben. Und darob alles Fremde, alles Ausländische zu tilgen.
Dean zeigt dieses Leben, diese Gesellschaft aus der Sicht des Aussenseiters, sowohl in Trinidad als auch in der Schweiz. Und so bitter der Unterton dieser Geschichte auch sein mag, so lässt er doch keinen Zweifel daran, wie nahe er seiner Mutter immer stand. Auch, wenn er sie gegen Ende ihres Lebens immer seltener gesehen haben mag. Auch wenn er sie als Frau mit zwei Gesichtern bezeichnet, seiner Komplizin und seiner Verräterin. Auch wenn sie ihre karibische Vergangenheit verdrängt und verleugnet hat.
Zum Schluss lässt Dean einen in seinem eigenen Zwiespalt zurück, den er seiner Mutter gegenüber empfunden hat: Empörung darüber, dass sie ihn quasi aus der Familie getilgt hat und Trauer darüber, dass sie tot ist – und mit ihr auch ein Teil seiner selbst.
So zwiespältig der Autor sich fühlt, so zwiespältig bleiben Lesende nach der Lektüre zurück. Irgendwo zwischen Mitleid über diese bitter-tragische Lebensgeschichte – so mutet sie oft an – und Bewunderung für die ausdrucksstarke und wohlkomponierte Sprache, mit der Martin R. Dean diese Lebensgeschichte erzählt.
Martin R. Dean erzählt in einer unglaublich intensiven, bildgewaltigen Sprache das Leben seiner verstorbenen Mutter nach. Ihr Leben mit dem gewalttätigen ersten Mann und dem gemeinsamen Sohn auf Trinidad. Die Rückkehr in die ländliche Schweiz der 1960er-Jahre. Der Versuch, die fremdländische Vergangenheit zu verdrängen – und dabei dem Sohn seine Herkunft zu nehmen.
Dabei behandelt Dean britischen Kolonialismus zwischen Indien und der Karibik, Schweizer Fremdenhass in Zeiten von James Schwarzenbach bis heute und menschliche Tragödien von Einsamkeit, Trauer und Verdrängung. Eine Lektüre, die ich vorbehaltlos empfehle und die zu Recht für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert war.
Pro
Weltenbummler, Wandersportler, Wok-Weltmeister (nicht im Eiskanal), Wortjongleur und Foto-Enthusiast.