Filmkritik: «Black Widow» ist endlich da – und enttäuscht
Endlich Natasha Romanoff. Endlich Black Widow. Aber was ein Triumph hätte sein können – sein sollen – wirkt erstaunlich blutleer. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Natasha Romanoff (Scarlett Johansson) aka Black Widow ist tot. Das ist kein Spoiler, weil wir sie bereits im zwei Jahre zurückliegenden «Avengers: Endgame» haben sterben sehen. Sie opferte sich. Nicht, um die Menschheit vor einem verrückten Titanen zu retten. Sondern, um das zu retten, was ihr zur Familie geworden war.
Dann kommt «Black Widow», der Film, und sagt: Nope, nicht wirklich, da gibt’s noch eine Familie, und erzählt eine Geschichte über Schmerz und Vergangenheit, die nicht richtig zünden will. Aber der Reihe nach.
Dämonen der Vergangenheit
Einst als Waise vom KGB rekrutiert, wurde Natasha Romanoff dem Red Room übergeben, einem strenggeheimen sowjetischen Gehirnwäsche- und Trainingsprogramm, das junge Frauen zu den wohl tödlichsten und elitärsten Attentätern der Welt macht – zu Black Widows. Das war ihre Geschichte.
War.
Denn Natasha hat mittlerweile die Seiten gewechselt. Zuerst als S.H.I.E.L.D.-Agentin, dann als Mitglied der Avengers, die ihr eine Familie geworden sind. Eine, die gerade schlechte Zeiten durchlebt. Denn «Black Widow» spielt zwischen den Ereignissen von «Captain America: Civil War» und «Avengers: Infinity War». Der Status Quo: Die Superhelden haben sich in zwei Lager gespalten. Einmal mehr muss Natasha ihren Platz in der Welt wiederfinden.
Dann erreicht Natascha ein mysteriöses Paket. Ein Hilferuf – aus der Vergangenheit. Und ehe sie sich versieht, taucht der Taskmaster auf, eine schier unaufhaltsame Killermaschine, gesteuert von dem Mann, der sie einst dem Red-Room-Programm übergeben hat.
Brachiale Action – und trotzdem kein Umpf
Es ist kaum zu übersehen, wo sich die relativ unbekannte Regisseurin Cate Shortland die meiste Inspiration hergeholt hat. Denn «Black Widow» ist in erster Linie eines: Ein knallharter Spionage-Thriller. Das gefällt. Gerade in der ersten Filmhälfte, die überhaupt nicht wie ein Marvel-Superhelden-Film wirkt.
Geschuldet ist das dem visuellen Stil, die Shortland zusammen mit Kameramann Gabriel Beristain ungeniert von den Russo-Brüdern klaut, den Regisseuren von «Captain America: The Winter Soldier». Genau wie dort wirkt das Bild kalt und entsättigt, und die Action meist handgemacht. Etwa, wenn der Taskmaster sich wie Arnold Schwarzeneggers Terminator unbeeindruckt durch die Strassen Budapests pflügt, um Jagd auf die flüchtige Black Widow zu machen.
CGI-Gewitter? Nö. Explosionen? Scheinen echt. Von der Wucht weg fliegende Autos? Definitiv kein blosser Blechschaden. So muss es krachen, wenn’s krachen soll.
Noch beeindruckender sind die Martial-Arts-Skills im Film. Kein Wunder: Da sind die tödlichsten weiblichen Killermaschinen des Planeten. Und dann ist da noch besagter Taskmaster. Zur Erklärung: Sowohl im Film als auch in den Comics besitzt er fotografische Reflexe. Das heisst, dass er sofort Dinge nachahmen kann, die er sieht. Wenn er etwa Natasha Romanoff dabei zuschaut, wie sie Rückwärtssaltos schlagend ihre Gegner ausschaltet, dann kann er das auch. Einfach so.
Gerade für langjährige Marvel-Fans sorgt das immer wieder für geniale Aha-Momente. Einmal studiert er Ausschnitte aus «Iron Man 2», um Natashas Kampftechniken zu lernen. Später schmeisst er seinen Schild wie Captain America, fährt die die Krallen wie Black Panther aus und verschiesst Pfeile genauso treffsicher wie Hawkeye.
Ein Fest. Eigentlich.
Eigentlich, weil «Black Widow» eine grosse Chance verpasst. Nämlich, sich zumindest ein bisschen weg von der Marvel-esquen Action hin zur John-Wick-esquen zu bewegen. Denn ich will die Schläge, Tritte und Kämpfe nicht nur sehen. Ich will sie spüren. So richtig. Das funktioniert im von David Leitch inszenierten «John Wick» hervorragend. Und noch besser in «Atomic Blonde», ebenfalls von Leitch inszeniert. Denn dort ermüden die Protagonisten während ihren Kämpfen und tragen Verletzungen mit Konsequenzen davon.
Regisseurin Shortland ist sichtlich bemüht, die Action im Sinne David Leitch’ zu inszenieren. Das sieht man in jeder Einstellung. In allen liebevoll und akribisch einstudierten Choreografien, die ordentlich Rumms haben.
Der Unterschied: Wenn sich Natasha und ihr Gegenüber in bester John-Wick-manier so richtig auf die Fresse geben, ist zwei Minuten später nichts davon zu sehen. Keine klaffende Wunde. Nicht mal ein Kratzer! Niemand kommt ausser Atem. Das ist okay, wenn sich Superhelden wie Thor oder Captain Marvel bekloppen. Aber nicht bei Natasha, einem ganz gewöhnlichen Menschen ohne Superkräfte.
Sicher, «Black Widow» ist nicht ans selbe Zielpublikum gerichtet wie «John Wick» oder «Atomic Blonde». Ich bin mir trotzdem sicher, dass da mehr Stringenz in der Action drin gelegen wäre, ohne gleich eine FSK-18-Altersfreigabe zu riskieren. Hat’s bei besagtem «Captain America: The Winter Soldier» oder «Captain America: Civil War» ja auch nicht gegeben. Und die hauen dort ebenfalls ordentlich rein.
Die Sache mit der Patchwork-Familie
Nun gut. Grundsätzlich macht die Action ja Spass. Die Mischung stimmt: Düsterer Spionage-Thriller, Natashas Vergangenheit, ein Terminator-Verschnitt, der jegliche Kampfkunst nachahmt, die gegen ihn angewandt wird – so weit, so geil.
Dann aber die zweite Filmhälfte, die über ein Drehbuch stolpert, das nicht so recht weiss, ob es noch Spionage-Thriller sein will oder doch lieber Marvel-CGI-Gewitter extraordinaire. Und als ob der düstere Ton zuvor zu viel gewesen wäre, kommt plötzlich noch Patchwork-Family-Klamauk dazu.
Ähm, was soll das?
Versteh mich nicht falsch: Schauspieler David Harbour gibt einen herrlich klischierten, aber gerade darum sympathischen Red Guardian, der im Grunde nichts als eine sowjetische Captain-America-Karikatur ist. Er ist auch sowas wie der Papa der Patchwork-Familie, zu der Natasha Romanoff offenbar einst gehörte, die aber genauso schnell im MCU auftaucht wie sie wohl wieder verschwinden wird. Dazu kommt die von Reichel Weisz gespielte Melina Vostokoff, die Mama.
Du siehst, die Klischees?
Wirklich als Gewinn geht nur Natashas Schwester Yelena Belova durch, die mit viel frechem Charisma von der Newcomerin Florence Pugh gespielt wird. Auch sie musste sich einst dem Red-Room-Programm unterziehen. Darum ist die Beziehung, die sie und Natasha pflegen – ihre Unterhaltungen – auch die aufschlussreichste, wenn’s darum geht, zu erforschen, welche Dämonen Natasha bis heute treiben.
Und so viel kann ich dir jetzt schon verraten: Die Chancen, dass wir Yelena zum letzten Mal im MCU gesehen haben, sind gering.
Was hätte sein können (seufz)
Ich habe gehofft, dass «Black Widow» Aufschluss über Natasha Romanoffs Vergangenheit geben würde. Über ihre Traumas, ihre Ausbildung, über das viele Blut, das laut Loki in «Avengers» an ihren Händen klebe – und welche Rolle Jeremy Renners Clint Barton aka Hawkeye gespielt habe, um Natasha davon reinzuwaschen. Nichts davon findet seinen Weg in den Film. Oder höchstens am Rande.
Stattdessen fühlt sich «Black Widow» meistens wie eine Disney+-Serie an, die zufällig auch im Kino läuft. Eine «Abenteuer der Woche»-Geschichte, in der wir das eine oder andere über die Hauptfigur erfahren, ohne dabei wirklich in die Tiefe zu gehen.
Noch mehr verpasste Chancen.
Ich meine: Alleine, was es da über den Red Room zu erzählen gäbe. Über die Institution. Die Gehirnwäsche. Die Grausamkeiten. In den Comics werden die ausgewählten Mädchen täglich einem erschöpfenden Nahkampftraining unterzogen, in Akrobatik und in taktische Fähigkeiten ausgebildet. Gelegentlich werden dann zwei Mädchen ausgewählt, die bis auf den Tod gegeneinander antreten müssen. Überleben tut jeweils nur die Gewinnerin; im Red Room wird keine Schwäche toleriert.
Auf Videoprojektionen schauen sich die Mädchen Filme wie «Schneewittchen und die sieben Zwerge» an, aber durchsetzt mit unterschwelligen Botschaften. Angst. Paranoia. Furcht. Und im Schlaf werden Hände und Beine an die Bettrahmen gefesselt, damit niemand zu flüchten versucht.
Zum Programm gehört auch der Umgang mit Waffen. Zielübungen finden dabei nicht nur auf Attrappen statt. Manchmal schiessen die Mädchen auch auf echte Menschen – damit das Töten später leichter fällt. Schlussendlich, als Abschluss-Zeremonie, werden den Mädchen Uterus und Eierstöcke entfernt, damit sie keine Kinder mehr gebären können. Nicht, dass den kommenden Agentinnen etwas wichtigeres in den Weg kommen könnte als ihre Mission.
Du siehst: grausam. Aber auch unheimlich viel spannender und eindrucksvoller.
Fazit
Das ist es, was ich mir von einem «Black Widow»-Film gewünscht hätte: Die Aufarbeitung einer kaum erträglichen Vergangenheit, die in den bisherigen 23 MCU-Filmen immer wieder angedeutet, aber nie wirklich erklärt wurde. Das hätte für mich der längst überfällige Solo-Film einer der spannendsten und tiefgründigsten MCU-Charaktere sein müssen.
Sicher, «Black Widow» ist voller spektakulärer und gut umgesetzter Action. Dazu kommen die tollen Kampf-Choreografien, die aber etwas stringenter hätten sein müssen, und der Humor, der Marvel-typisch recht gut sitzt.
Ist das Ganze solid? Ja. Aber meiner Meinung nach nicht gut genug. Mir fehlt der Tiefgang, den das Drehbuch durch das Auftauchen der Patchwork-Familie zwar suggerieren will, aber niemals erreicht. «Black Widow» ist somit ein Film, der zwar Spass macht, mir aber nicht wirklich was Neues über die Figur der Natasha Romanoff erzählt.
Zu sehen ist «Black Widow» ab dem 8. Juli im Kino und ab dem 9. Juli auf Disney+ via kostenpflichtigen VIP-Zugang (29.90 Franken). Ab dem 6. Oktober ist «Black Widow» für alle Disney+-Accounts zugänglich, auch ohne VIP-Zugang.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»