Filmkritik: Es ist die Musik, die in Encanto verzaubert
25/11/2021
Herrliche Musik, wunderschöne Animationen und eine Geschichte, die wohltuender nicht sein könnte: «Encanto» ist alles, was ich mir erhofft habe. Und noch mehr.
Eines vorweg: In dieser Filmkritik liest du keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
«Colombia!», hallt es mit locker-flockiger Musik aus den Trailern. Nicht sie sind es, die im Vorfeld meine Erwartungen an Disneys neuesten Animationsfilm in die Höhe haben schnellen lassen. Es ist ein Name:
Lin-Manuel Miranda.
Miranda ist nicht der Regisseur. Auch kein Synchronsprecher. Miranda ist der, der die Songs zum Film geschrieben hat. Und was für welche! Selbst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, summe ich die Melodien, während meine Daumen die Rhythmen auf der Tastatur trommeln und irgendwo in meinem Kopf «We don’t talk about Bruno-no-no-no-no» nachhallt.
Der Film hat mich in seinen Bann gezogen. Vor allem dank seiner Musik.
Darum geht’s
Familie Madrigal ist keine normale Familie. Genauso wenig wie das Haus, in dem sie leben, mitten im kolumbianischen Dschungel, umgeben von Hügeln und Bergen, weit weg von der Zivilisation. Nur ein kleines malerisches Dorf mit seinen ulkigen und sympathischen Bewohnerinnen und Bewohnern grenzen an das magische Haus.
Warum das so ist, will ich dir nicht jetzt schon spoilern. Nur so viel: Ein Encanto liegt auf Haus und Familie Madrigal – ein Zauber. Das Haus selbst lebt nämlich. Und alle Madrigal-Sprösslinge haben eine magische Gabe: Übermenschliche Stärke, Super-Gehör, Zukunftsvisionen, Heilkräfte. Alle – bis auf Mirabel (Stephanie Beatriz).
Warum ausgerechnet Mirabel keine Gabe besitzt, weiss niemand. Sie hilft trotzdem mit, wo sie nur kann, wenn auch eher schlecht als recht. Denn die Madrigal-Familie hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Gaben zum Wohle des Dorfes einzusetzen. Eigentlich löblich. Aber dann beginnt sich der Encanto nach und nach aufzulösen. Während die Familie verzweifelt, scheint nur noch Mirabel klaren Kopfes genug, um dem bröckelnden Zauber auf den Grund zu gehen.
Endlich ist ihre Chance gekommen, sich als würdige Madrigal auszuzeichnen.
Hach, diese Musik – magical, fantastical!
Zurück zur Musik. Zu Lin-Manuel Miranda. Der hätte tatsächlich eine Auszeichnung für seine Songs im Film verdient, auch wenn er kein Newcomer mehr ist: In der Musicalszene gilt der Mann mit puertoricanischen Wurzeln schon längst als Genie. Vor allem wegen seiner vielen Talente: Miranda ist nicht nur Komponist und Songwriter, sondern auch Rapper und Schauspieler. Jetzt macht er sich auch in Hollywood einen Namen.
Vermutlich kennst du einige seiner Werke schon. Sein Broadway Musical «Hamilton» etwa gewann 2015 den Pulitzer-Preis, mehrere Tony-Awards und Grammys. Bekannt wurde er bereits 2008 mit «In the Heights», ebenfalls mit Tony- und Grammy-Awards geehrt. In beiden Musicals schrieb er nicht nur die Musik, sondern spielte auch die Hauptrolle.
Und: «In the Heights» wurde erst kürzlich fürs Kino adaptiert. Ein Fest für Augen und Ohren.
Jetzt also «Encanto». Das ist nicht das erste Mal, dass Miranda mit Disney zusammenarbeitet. Bei «Moana» zum Beispiel hat er zusammen mit Mark Mancina und Opetaia Foa'i schon die Songs mitgeschrieben. Das Titellied «How Far I’ll Go» wurde 2016 gar für den Oscar nominiert. «Encanto» ist allerdings das erste Mal, bei dem Miranda die Songs in einem Disney-Film alleine geschrieben hat. Das Ergebnis: Wow.
Einfach nur wow.
Vor allem, weil sich Miranda auf seine bewährten Tugenden beruft. Kaum ein anderer mischt traditionell-lateinamerikanische Rhythmen und Stilrichtungen so gekonnt mit Hip-Hop, Pop oder Rap. Das macht schon «In the Heights» aus. Das wiederholt Miranda in «Hamilton». In «Encanto» reizt er sein Talent hörbar aus. Mal entdeckst du «90er Rock en español», gespickt mit ein wenig traditioneller kolumbianischer Vallenato, dann Pop. Plötzlich Rap. Dann wieder die Cumbia, mit viel Salsa und Rhythmus. Jeder Song: eine kleine Geschichte. Eine kleine Welt.
Das geht den ganzen Film so weiter. Nie klingt der wilde Mix, als ob er nicht genau so zusammengehörte.
Ich liebe die «Encanto»-Songs. Ich könnte sie den ganzen Tag auf- und abhören. So richtig ins Gedächtnis brennen sie sich spätestens dann, wenn du die Bilder dazu siehst: Sie bersten nur so vor visueller Energie und Fantasie. Stell dir Genies «Friend Like Me» aus «Aladdin» vor. In etwa so ist jeder Song, optisch und visuell. Der pure Wahnsinn.
Das führt mich zum nächsten Punkt.
Wenn «state» auf «art» trifft: Wundervolle Animationen
Okay, das könnte jetzt etwas redundant daherkommen, weil ich das bei jedem neuen Disney-Animationsfilm sage, aber: Wann hören Animationsfilme auf, schöner zu werden?
Sicher, Disney stehen gewaltige Ressourcen zur Verfügung. Das gilt auch fürs andere Animationsstudio aus dem gleichen Hause: Pixar. Qualität lässt sich aber nicht nur mit Geld kaufen. Animation ist eine Kunst. Dafür braucht es Talent. Talent in Form von hunderten von Menschen, die pausenlos, mit viel Hingabe und noch mehr Liebe an jedem noch so kleinen Detail feilen – monatelang. Was, zugegebenermassen, auch wieder eine Frage des Geldes ist. Die Kunst allerdings nur darauf zu reduzieren, wäre denjenigen Menschen gegenüber unfair, die nicht zum höheren Management Disneys gehören und das Geld eben nicht vor sich hinschaufeln. Aber – anderes Thema.
Falls dich das trotzdem interessiert, dann schau dir unbedingt die überraschend kritische Doku-Serie «Into the Unknown: Making Frozen 2» auf Disney+ an. Da lernst du, was tatsächlich hinter der Entstehung eines kompletten Animationsfilms steht. Schweiss. Tränen. Wut. Trauer. Und ganz viel Freude. Mir hat die Doku die Augen geöffnet:
In «Encanto» ist die Leidenschaft der Künstlerinnen und Künstler in jeder einzelnen Sekunde spürbar. Keine Einstellung ist langweilig. Jedes Frame strotzt nur so vor Farbe. Da ist so viel Tiefe. Da sind so viele kreative Einfälle. Etwa Grossmutters Rückblick am Anfang des Films. Oder, dass praktisch jedes Zimmer im verzauberten Haus in eine eigene, kleine Welt führt. In einen Dschungel. Oder in eine riesige Höhle, mit endlos scheinenden, steinernen Treppen. Oder in einem Zimmer nur aus knallig-bunten Blumen.
Dass der ganze Film dabei eigentlich nur in diesem einen Haus spielt, spielt dehalb tatsächlich keine Rolle. Zu gross und kreativ die Abwechslung, an der sich das Auge erfreuen kann. Wenn das nicht zumindest mit einer Oscarnomination gewürdigt wird, weiss ich auch nicht weiter.
Die wichtigste Disney-Story seit langem
Bei all der prächtigen audiovisuellen Opulenz könnte die Story beinahe in Vergessenheit geraten. Sollte sie aber nicht. Nicht, weil sie besonders vielschichtig wäre. Wäre auch das falsche Zielpublikum. «Encanto» ist und bleibt ein Familienfilm mit einfachen, aber umso wichtigeren Werten.
Aber «Encanto» hat zwei Dinge. Zum einen ist Mirabel eine Heldin mit Brille, die sich trotz Unsicherheiten nicht unterkriegen lässt. Vielleicht gar die erste Disney-Heldin mit Brille? Als Brillenträger finde ich das super. Pluspunkte dafür. Zum viel wichtigeren anderen aber hat Mirabel keine Gabe. Keine Superkräfte. Gerade jetzt, wo seit über einem Jahrzehnt Comicverfilmungen die Kinos und Familienunterhaltung dominieren – und ich liebe Comicverfilmungen! –, finde ich das eine schöne Abwechslung.
Kinder wachsen aktuell in einer Welt auf, in der es Superkräfte sind, die die Protagonistinnen und Protagonisten von den anderen abheben. Das, oder super viel Geld. Dass sie auch dann Heldinnen und Helden sein können, wenn sie keine Superkräfte haben, ist eine wichtige Botschaft. Eine andere Perspektive. Gerade, wenn alle anderen um sie herum welche besitzen.
Mirabel kämpft natürlich damit, dass das Dorf ihre Familienmitglieder als Stars feiert, sie aber nicht. Es ist aber nicht Eifersucht, die Mirabel überkommt. Sie liebt ihre Geschwister, ihre Eltern, Tanten, Onkel und Cousins. Gönnt ihnen jede einzelne Gabe. Auch das ist für Kinder wichtig zu sehen. Genau das macht Mirabell so liebenswert. Was sie tatsächlich überkommt, ist schlicht der verzweifelte Wunsch, dazuzugehören. Nicht ausgegrenzt zu werden.
Nicht übersehen zu werden.
Ein Gefühl, mit dem ich mich identifizieren kann, so wie wahrscheinlich viele Kinder und Erwachsene. Uns Zuschauern fällt es darum leicht, Mirabel ins Herz zu schliessen. Und umso wohltuender ist darum ein Film wie «Encanto», bei dem’s, ohne zu spoilern, genau so kommen muss, wie’s bei Disney Animation Studios oder Pixar zum Ende hin immer kommt: Irgendwer tut einem Wasser in die Augen. Immer. Echt jetzt, was soll das, Disney?
Dass der Schauplatz Kolumbien in all dem nur eine sekundäre Rolle spielt und die Geschichte genauso gut woanders hätte spielen können, macht nichts. Auch, weil «Encanto» besser ist, als sich plumper lateinamerikanischer Klischees zu bedienen. Soweit ich das als europäischer Weisser beurteilen kann, zollt der Film der kolumbianischen Kultur jedes bisschen Respekt, das sie verdient.
Schliesslich haben mit Jared Bush und Byron Howard zwei Regie geführt, die mit «Zootopia» bereits das Thema Rassismus überraschend feinfühlig behandelt haben. In «Encanto» geht’s aber um was anderes. Nämlich darum, worin unser Wert als Individuen liegt. Als Menschen.
Eine schöne, rassenunabhängige Botschaft, die ich hier nicht vorwegnehmen will.
Fazit: Ein herrlicher Spass mit zauberhafter Musik
Was zum Schluss bleibt, ist, dass ich Lin-Manuel Mirandas Songs immer noch trommelnd und mit dem Stuhl wippend vor mich hinsumme, während ich schwelgend den Film Revue passieren lasse. Kein Wunder: Seine Songs sind eine wundervolle Hommage an die kolumbianische Kultur, gepaart mit mehr als nur einem Hauch Moderne – Mirandas Markenzeichen.
Dazu kommt das Talent der Künstlerinnen und Künstler der Disney Animation Studios, die einen visuell herrlich überbordenden Film abliefern, wie ich ihn mir nicht schöner hätte wünschen können. Und wenn das nicht schon genug wäre, dann gibt’s noch eine Protagonistin, die sich nicht durch Superkräfte oder magische Gaben von den anderen abhebt. Sondern schlicht und einfach dadurch, wer sie ist.
In diesem Sinne: «Colombia!»
«Encanto» läuft ab dem 24. November im Kino. Laufzeit: 99 Minuten.
Luca Fontana
Senior Editor
Luca.Fontana@digitecgalaxus.chAbenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»