Ist Moon Knight besser als Loki?
29/3/2022
«Moon Knight» ist ein auf dem Papier unmöglicher, auf dem Screen aber fantastischer Genre-Mix. Getragen wird er vom genialen Hauptdarsteller Oscar Isaac – irgendwo zwischen Düsternis und mentalen Abgründen.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Vier Folgen. Soviel hat mir Disney vorab für diese Serienkritik zur Verfügung gestellt. Genug, um ohne Umschweife sagen zu können: «Moon Knight» ist jetzt schon eine der packendsten, überraschendsten und innovativsten Serien des Marvel Cinematic Universe (MCU) überhaupt. Das macht das Warten auf die letzten zwei Folgen umso unerträglicher.
Darum geht’s in «Moon Knight»
London. Das Leben des Steven Grant (Oscar Isaac) ist kein beneidenswertes. Schlafstörungen plagen ihn jede Nacht. Am Arbeitsplatz – einem Museum für ägyptische Geschichte – wird er täglich gemobbt. Niemand nimmt ihn ernst. Und ständig wird er von wildfremden Leuten auf Dinge angesprochen, von denen er keinen blassen Schimmer mehr hat. Als ob sie jemand anderes erlebt hätte…
Aber Grant arrangiert sich. Irgendwie. Vielleicht schlafwandelt er ja. Vor dem Schlafengehen klebt er darum die Haustüre ab, bindet sich ans eigene Bett und legt Sand drumherum aus, um am nächsten Morgen anhand von Spuren zu kontrollieren, ob er versucht hat, es unbewusst zu verlassen – bis er eines Tages doch mit einem ausgerenkten Kiefer und blutigen Händen erwacht. Auf einem Feld. In einem ihm wildfremden Land.
Bald schon erfährt Steven, dass er nicht Steven ist. Nicht nur, zumindest. Manchmal ist er auch Marc Spector. Und nachts, wenn der Mond am hellsten strahlt, da ist er Moon Knight, Avatar und Vollstrecker im Dienste des ägyptischen Mondgottes Khonshu. Das macht ihn zum Behüter, Wegweiser, Verteidiger und Beobachter der Nachtwandler – sofern er sich das nicht alles einbildet.
Ein herrlich verwirrender Trip
Das letzte Mal, dass ich mich auf eine Marvel-Serie gefreut habe – so richtig –, ist lange her. Das muss «Loki» gewesen sein. Nicht mal wegen des mittlerweile ikonischen Hauptdarstellers Tom Hiddleston. Sondern wegen des Trailers, der alles und gleichzeitig nichts aussagte.
Ich wünschte, Marvel hätte den Mut, sowas öfter zu machen. Zur Abwechslung mal nicht die leiseste Ahnung zu haben, worauf ich mich dabei einliess, machte den Reiz der Serie aus. «Moon Knight» ist ähnlich. Aber auf eine andere Art und Weise. Nicht nur der Trailer ist angenehm wirr, sondern die ganze erste Episode.
Erzählt wird sie anhand eines genialen dramaturgischen Kniffs: Stell dir vor, du bist ein ganz normaler Mensch, mit einem ganz normalen Leben, bis du eines Tages aufwachst und herausfindest, dass du eine zweite, dir selber gänzlich unbekannte Persönlichkeit hast.
Und die ist ein Superheld.
Die Prämisse ist nicht völlig neu – aber so radikal umgesetzt, wie noch nie. Denn die Geschichte vorerst aus der Sicht des Protagonisten Steven Grant zu erzählen – und nur des Steven Grant – macht seine Informationslücken zu den unseren. Seine Verwirrung wird greifbar. Seine Überforderung spürbar. In einem Moment wird er von bösen Männern gepackt, im nächsten liegen sie tot um ihn herum, Blut überall. Dann hockt er plötzlich in einem Auto, schreiend auf einer Serpentinenstrasse rasend – und plötzlich liegt er wieder im eigenen Bett.
Ganz unerwartet wird «Was zum Geier…!?» ein wahnsinnig faszinierender Gedanke, der mich breit grinsend keine einzige Sekunde losgelassen hat. Zu verdanken ist er Regisseur Mohamed Diab, der vier von sechs Folgen inszeniert und die kreative Federführung der gesamten Show innehatte. Diab selber ist im Mainstream-Hollywood noch keine grosse Nummer. Auch, weil der ägyptisch-stämmige Regisseur sich bisher auf ägyptische Independent-Filmemacherei konzentriert hat. Seine Fähigkeit, Drama mit Big-Budget-Action zu vereinbaren, scheint das kein bisschen zu beeinträchtigen.
Tatsächlich hat Diab gerade die Action gut im Griff. Wählt immer wieder interessante Einstellungen. Spielt selbst in den ruhigen Szenen damit. Nicht nur erzählerisch wirkt «Moon Knight» deshalb für ein Marvel-Produkt erstaunlich reif, sondern auch handwerklich. Und hart. Nicht im gleichen Masse wie seine Comic-Vorlage, die sich definitiv an ein eher erwachsenes Publikum richtet. Aber dennoch deutlich härter, als ich es von einer auf Disney+ erscheinenden Serie erwartet hatte.
Das bestätigt Diab auch im Interview, das ich anlässlich der «Moon Knight»-Premiere mit ihm habe durchführen dürfen:
Oscar Isaac in Höchstform – und Ethan Hawke
Dass «Moon Knight» für Marvel ein Erfolg werden dürfte, liegt auch an seiner hervorragenden Besetzung. Allen voran Golden-Globe-Gewinner Oscar Isaac, der seine von dissoziativer Identitätsstörung geplagte Hauptfigur Steven Grant spielt. Das ist eine psychische Erkrankung, bei der mehrere Identitäten in derselben Person alternieren, ohne sich daran zu erinnern, was die jeweils anderen Persönlichkeiten tun oder sagen.
Schon im Vorfeld kündigte Isaac an, dass er und das Kreativteam das Thema und den angemessenen Umgang mit psychischer Gesundheit sehr ernst genommen hätten. Das merkt man der Serie an. Nicht selten blieb mir beim Gucken das Lachen im Hals stecken. Eine durchaus beabsichtigte Reaktion. So cool es klingen mag, eine verborgene Persönlichkeit als Superheld zu haben – Steven Grant versaut sie das Leben, und «Moon Knight» zieht das Ganze nicht ins Lächerliche.
Isaacs schauspielerisches Talent ist dann am offensichtlichsten, wenn er zwischen seinen Persönlichkeiten hin- und herwechselt. Auf einmal ändert sich seine gesamte Körpersprache. Seine Haltung. Sein Akzent. Selbst die Tonlage seiner Stimme. Seine unterschiedlichen Persönlichkeiten lassen sich genauso gut voneinander unterscheiden wie wenn sie von mehreren Schauspielern gespielt worden wären – ein schauspielerisches Beinahe-Tohuwabohu, bei dem die Kunst darin liegt, eben nie in selbiges auszuarten.
Ich könnte ewig weiterschwärmen. Isaac gegenüber spielt aber einer den Antagonisten Arthur Harrow mit genauso viel Charisma: Ethan Hawke. Sein Job ist kein einfacher. Wo es üblicherweise die Bösen sind, deren Wahnsinn sie letztendlich auf böse Pfade wandeln lässt, ist es hier der Protagonist, der den Wahnsinn für sich gepachtet hat. Sprich: Hawke muss böse, darf aber nicht wahnsinnig sein.
Wie «gesunder» Wahnsinn funktioniert? Hawke sprach im Vorfeld von einer für ihn nicht untypisch komplexen Herangehensweise. Tatsächlich soll sein Arthur Harrow eine Mischung aus dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi, dem ehemaligen kubanischen Diktator Fidel Castro, dem Dalai Lama und dem Nazi-Arzt Josef Mengele sein. Aha.
Vier Folgen später fange ich an, zu verstehen. Harrow gibt Menschen, die alles im Leben verloren haben, Nahrung, Obdach, Hoffnung und – vor allem – eine Zukunft, an die sie glauben können. Sein Feldzug beginnt in einer heruntergekommenen Gegend Londons, in der zurvor Mord und Gewalt an der Tagesordnung waren. Mittlerweile soll die Gegend geheilt sein, denn sie sei – so Harrow – von Leid, Sünde und Verbrechen geläutert worden.
Geläutert.
Harrows Methoden ähneln dem Wahnsinn einer Endlösung, wie sie einst Mengele auslebte. Die wiederum entfacht in Harrow die Schwere und den moralischen Selbsthass eines Tolstois. Und all das von einer eigentlich friedlichen Ideologie wie jene des Dalai Lamas ausgehend – einfach mit Harrow als Übervater, wie es Castro für eine ganze fehlgeleitete Nation war. Diese komplexe Figurenzeichnung macht nicht nur Harrow aus, sondern ist eine Spezialität Ethan Hawkes, der sich vor Jahren vom Hollywood-Mainstream abgewendet hat, um seine Schauspielkunst zu verfeinern.
Der Genre-Mix, der gar nicht funktionieren dürfte
«Moon Knight» auf seine zwei fantastischen Hauptdarsteller zu reduzieren, täte der Serie allerdings unrecht. Regisseur Diab und seinem Kreativteam gelingt nämlich eine andere Meisterleistung: Die perfekte Verschmelzung grundverschiedener Genres.
Da ist zum Beispiel viel «Fight Club» in der Serie, mit all seiner Härte und Düsternis, getragen vom psychisch kranken Protagonisten. Dazu ein leichter Fantasy-Einschlag, inspiriert von ganz viel ägyptischer Mythologie, bei der zwischendurch Humor durchdrückt, aber nicht auf die eher kindliche Marvel-Art, sondern viel subtiler. Und wenn du glaubst, «Moon Knight» endlich durchschaut zu haben, gibt’s eine dicke Portion Action-Adventure und Horror à la 1999er «The Mummy» obendrauf. Was auf dem Papier wie ein Albtraum in puncto stringenter Tonalität klingt, funktioniert auf dem Screen wider jede Logik.
Vielleicht, weil wir Zuschauerinnen und Zuschauer uns einfach von der ersten Sekunde an auf die Seite des bemitleidenswerten Steven Grant schlagen. So viel Sympathie hat eine Marvel-Figur bei mir noch selten erregt. Durch die Geschichte förmlich gepeitscht wird er vom ägyptischen Mondgott Khonshu, im Original unheimlich furchteinflössend von F. Murray Abraham synchronisiert.
Khonshu ist noch so ein ambivalenter Charakter, der «Moon Knight» so reizvoll macht: Er ist der Gott, der Grant zwar seine Fähigkeiten fürs Gute gibt, aber auch äusserst rachsüchtig ist, scheinbar seine eigenen, egoistischen Ziele verfolgend – ohne Skrupel vor fragwürdigen Methoden.
Ein bisschen Kritik zum Schluss
Wenn es etwas an «Moon Knight» zu bemängeln gibt, dann diese zwei Dinge. Erstens: Dass der titelgebende Superheld erstaunlich wenig auftaucht. Zumindest in den ersten vier Folgen, die der Presse vorgängig zugänglich gemacht worden sind. Das ist schade. Moon Knights Action hat Potential, das noch ausgeschöpft werden muss. Das womöglich noch ausgeschöpft wird. Dazu kommen seine Kostüme, die designmässig zum Einzigartigsten gehören, was das MCU je hervorgebracht hat.
Etwa der von Bandagen eingehüllte und vom sichelförmigen Cape ergänzte rituelle Anzug, den wir schon in den Trailern gesehen haben. Oder der schneeweisse Anzug, den Mr. Knight trägt, ein heimlicher Fanfavorit. Erschaffen wurde er von Autor Warren Ellis bereits 2011. Richtig bekannt wurde er aber erst in den Moon-Knight-Comics aus den Jahren 2014 und 2015. Und wo Moon Knight der brutale, rachsüchtige Selbstjustizler ist, der Verbrecher lieber einfach zu Brei schlägt, ist zumindest Comic-Mr.-Knight deutlich subtiler, berät sich mit der Polizei über Tatorte, spricht mit Menschen, die Schutz brauchen – und vermöbelt die Verbrecher dann à la John Wick.
Das führt mich zum zweiten Kritikpunkt: Mr. Knight. Was die eingeschlagene Richtung des Charakters, wie er im Comic steht, in der Serie betrifft – sie wird der Vorlage (bis jetzt) nicht gerecht. Das auszuführen, ohne zu spoilern, ist aber unmöglich. Darum nur soviel: Wer die Comics nicht kennt, den werden die Änderungen kaum stören. Im Gegenteil. Für die anderen hingegen… mal schauen. Ich bin auf eure Meinung gespannt.
Fazit: Eine der besten MCU-Serien bisher
Trotz der kleinen Kritikpunkten: «Moon Knight» ist grossartig. Abwechslungsreich. Ein wilder Genre-Mix, der eigentlich gar nicht funktionieren dürfte, und mich trotzdem in jeder Folge aufs Neue positiv überraschen konnte. Dranzubleiben und mich auf die nächste Folge zu freuen, war keine Herausforderung. Gerade, weil die Story ständig «oh, da kommt noch so viel mehr» zwischen den Zeilen schrie.
Das Gesamtpaket zusammengestellt haben vor allem Regisseur und Kreativleiter Mohamed Diab zusammen mit seinen beiden genialen Hauptdarstellern Oscar Isaac und Ethan Hawke. Lange ist es her, dass mich eine Marvel-Serie mit derart komplexen Charakterzeichnungen beglückt hat. Was am Ende bleibt – oder besser – auf dich zukommt, ist eine Serie, die es meiner Meinung nach locker mit «Loki» oder «WandaVision» aufnehmen kann.
«Moon Knight» umfasst sechs Folgen à ca. 50 Minuten und läuft ab dem 30. März auf Disney+. Es wird eine neue Folge pro Woche ausgestrahlt.
Luca Fontana
Senior Editor
Luca.Fontana@digitecgalaxus.chAbenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»