Krafttraining, das einfachste auf der Welt? Weit gefehlt. Krafttraining ist wesentlich komplexer als wir bisher angenommen haben. Nach wie vor verstehen wir erst Bruchteile davon – wenn überhaupt.
Die Faszination für Muskeln und Kraft existierte in der Vergangenheit in vielen Formen. Mittels akrobatischer Kunststücke wurden Könige und das Volk unterhalten oder sportliche Events wie die Olympischen Spiele begeisterten tausende Menschen. Diese sportlichen Höchstleistungen sind nur möglich, wenn genügend Kraft entwickelt werden kann, um den entsprechenden Anforderungen gerecht zu werden. Daher verwundert es kaum, dass der Ursprung des Krafttrainings etwa so alt ist wie die Anfänge der Olympischen Spiele. Der Ringkampf feierte seine Premiere bei den Olympischen Spielen im Jahr 776 vor Christus. Damals wurde ausschliesslich im Stand gerungen und wer drei Mal zu Boden geworfen wurde, hatte verloren. Die Kraft in den Beinen und im Oberkörper waren also von zentraler Bedeutung.
Als Begründer des Krafttrainings gilt der äusserst erfolgreiche griechische Ringer Milon von Kroton, der um 555 vor Christus geboren wurde. Überlieferungen zufolge trug er täglich ein Kalb herum. Dieses wuchs und wurde zum ausgewachsenen Bullen. Da Milons Muskeln ebenfalls wuchsen, konnte er selbst einen ausgewachsenen Bullen schultern und herumtragen. Damit war das progressive und systematische Krafttraining geboren. Offensichtlich wachsen Muskeln und Kraft, wenn sie entsprechend belastet werden.
Das Arbeiten gegen einen Widerstand, wie das Heben und Senken einer externen Masse, wird heutzutage üblicherweise als Krafttraining bezeichnet. Führst du eine Hantel durch Beugen deines Ellenbogens von Hüfthöhe Richtung Schultern, ziehen sich die Muskeln deines Oberarms zusammen. Beim Absenken der Hantel Richtung Hüfte werden die entsprechenden Muskeln wieder verlängert. Das Zusammenziehen wird als konzentrisch, das Verlängern als exzentrisch bezeichnet. Diese beiden Begriffe sind historisch bedingt und widerspiegeln den physiologischen Prozess nicht. Besser wären die Begriffe miometrisch (griech. mio, verkürzend) und pliometrisch (griech. plio, verlängernd) zu verwenden. Eine Kraftentwicklung ohne eine Längenveränderung der Muskulatur nennen wir isometrisch (griech. iso, gleichbleibend). Somit haben wir die unterschiedlichen Formen muskulärer Arbeit definiert.
Das Anheben des eben vom Pöstler gelieferten Digitec/Galaxus Pakets ist also mit miometrischer Muskelarbeit verbunden, während das Halten des Pakets im rechten Armwinkel isometrischer Natur ist. Das Abstellen des Pakets auf einen Tisch verrichten wir pliometrisch.
Unser Körper ist ein physiologisches System und reagiert auf Umwelteinflüsse. Die Antworten, welche aufgrund der Einflüsse erzeugt werden, sind abhängig von modifizierbaren und nicht-modifizierbaren Faktoren. Zu den nicht-modifizierbaren Faktoren zählen beispielsweise unser Geschlecht, Alter, Genotyp etc., während modifizierbare Faktoren aus Training, Ernährung und Trainingserfahrung bestehen. All diese Faktoren werden von unserem Körper integriert. Diese Integration erfolgt über mehrere Ebenen hinweg. Auf systemischer Ebene werden kardiovaskuläre, muskuläre und neurale Komponenten entsprechend verändert. Auf zellulärer Ebene kommt es zu Interaktionen zwischen Molekülen und Signalwegen, die im Zellkern genetische Antworten hervorrufen. Die daraus resultierenden Proteine tragen schlussendlich zur funktionellen Adaption wie zum Beispiel Muskelwachstum oder der Erhöhung der Ausdauerkapazität bei. Die funktionelle Adaption hat jedoch wiederum Auswirkungen auf die systemische Antwort.
So verringert sich zum Beispiel das persönliche Potenzial, noch mehr Muskelmasse zuzulegen mit zunehmender Trainingsdauer und Muskelmassenzuwachs. Während Viktor Röthlin ein hohes Potenzial hat, würde er mit Krafttraining beginnen, ist das Potenzial von Arnold Schwarzenegger (während seines Karrierehöhepunkts als Kraftsportler) beinahe ausgereizt.
Wie erwähnt, besteht Krafttraining aus Faktoren, welche modifiziert werden können. Was aber heisst das und woraus bestehen diese Faktoren? In der wissenschaftlichen Literatur werden die klassischen mechano-biologischen Deskriptoren des Krafttrainings erwähnt. Dabei handelt es sich um den Trainingswiderstand, die Anzahl Wiederholungen, die Anzahl an Sätzen, die Pause zwischen den Sätzen, die wöchentliche Trainingsfrequenz und die Monate oder Jahre, welche systematisch trainiert wird.
Beim Trainingswiderstand handelt sich üblicherweise um die bewegte Masse oder um Prozente des persönlichen Repetitionsmaximums (RM). Das ist diejenige Masse, die du für eine bestimmte Übung über das komplette Bewegungsausmass ein einziges Mal bewegen kannst, also deine derzeitige maximale willkürliche Spitzenkraft. Machst du zum Beispiel Bizepscurls und schaffst mit einer Hantel von 20 Kilogramm nur eine Wiederholung, sind 20 Kilogramm dein 1-RM. Bekommst du zwei Wiederholungen hin, handelt es sich dabei um dein 2-RM usw.
Beim Krafttraining ist eine Wiederholung definiert als der komplette Zyklus des Hebens und Senkens einer bestimmten Masse über ein definiertes Bewegungsausmass einer bestimmten Übung. Die Anzahl Sätze besteht aus der Anzahl Wiederholungszyklen. Machst du beispielsweise 3 x 12 Wiederholungen, sprechen wir von drei Sätzen. Die Zeit, die du während zwei Sätzen in Ruhe verbringst, wird als Pause zwischen den Sätzen bezeichnet. Die wöchentliche Trainingsfrequenz entspricht der Anzahl Trainings, die du pro Woche absolvierst. Also wie oft du ins Gym gehst und dieselben Muskelgruppen mit denselben Übungen trainierst. Die Anzahl Monate oder Jahre, welche du systematisch trainierst hast, wie oben erwähnt, haben einen Einfluss auf das persönliche Potenzial.
Das Dilemma hierbei: Die klassischen Deskriptoren reichen nicht aus, um das Krafttraining und damit den einwirkenden Stimulus wissenschaftlich vollumfänglich zu beschreiben. So sagt die Anzahl Repetitionen nichts über die Ausführungsgeschwindigkeit oder die Zeit der miometrischen, isometrischen oder pliometrischen muskulären Arbeit aus. Diese Faktoren sind jedoch wichtig, da sie einen Einfluss auf die neuronale Ansteuerung von Muskelfasern oder den Stoffwechsel haben. Daher müssen die klassischen Deskriptoren erweitert werden. Idealerweise würden wir Kraft-/Weg-Zeit Diagramme aufzeichnen, da wir davon alle benötigten Deskriptoren ableiten könnten.
Krafttraining setzt sich also aus einer Vielzahl von mechano-biologischen Deskriptoren zusammen. Die Zusammensetzung dieser einzelnen Deskriptoren stellt nun den einzigartigen Fingerabdruck des Trainingsreizes dar. Daher müssen wir diesen Fingerabdruck genau beschreiben, um den Zusammenhang zwischen Reiz, systemischer Antwort, Signalwegen und funktioneller Adaption verstehen zu können.
The big picture
Fassen wir alles nochmals zusammen: Der Trainingsreiz besteht aus modifizierbaren mechano-biologischen Deskriptoren. Dieser Reiz trifft auf unseren Körper als physiologisches System. Dieses System setzt sich aus nicht-modifizierbaren Faktoren wie Alter, Geschlecht, Genotyp etc. zusammen. Innerhalb unseres Systems erfolgt nun die Integration dieser Faktoren und es kommt zu einer Anpassung, welche wiederum zukünftige Antworten beeinflusst.
Wie nun klar wird, handelt es sich hier um ein multifaktorielles Problem, welches weitaus komplexer ist als weitläufig angenommen. Für uns Wissenschaftler ist es daher von zentraler Bedeutung, alle Faktoren, welche zu einer Adaption führen, zu beschreiben.
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