Linkshänder-Expertin: «Ein Umschulen kann zu Konzentrations- und Gedächtnisproblemen führen»
Linkshändige Menschen haben im Alltag immer noch mit vielen Hürden zu kämpfen. Linkshänder-Beraterin Barbara Sattler erklärt, woran du erkennst, ob dein Kind linkshändig ist und weshalb es nicht umgeschult werden sollte.
«Du Schatz, ich bin jetzt gar nicht mehr sicher. Ist unser Sohn Linkshänder oder nicht?» Zugegeben: Es ist etwas peinlich, dass ich das nicht weiss. Der Grund ist der, dass unser heute fast zehnjähriger Sohn anfangs viele Dinge mit der linken Hand erledigte, bevor er im Kindergarten subtil, aber bestimmt von seiner Kindergartenlehrerin auf rechts getrimmt wurde. Ich kann nur hoffen, dass diese aufgezwungene Umschulung bei unserem Sohn keine nachteilige Wirkung entfaltet. Denn im Gespräch mit Barbara Sattler wird schnell klar, dass genau dies passieren kann.
Die promovierte Psychotherapeutin beschäftigt sich seit bald 40 Jahren mit dem Thema und hat die erste deutsche Beratungs– und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder in München gegründet. Diesem Netzwerk sind über 500 zertifizierte Linkshänder-Beraterinnen und -Berater in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich angeschlossen.
Barbara Sattler, gibt es denn Schätzungen oder Erhebungen, wie gross der Anteil der Linkshänder in der Gesellschaft ist?
Barbara Sattler: Manche Studien kommen auf etwa 20 Prozent. Andere wiederum auf nur 10 Prozent. Aber die Erhebungen wurden vornehmlich durch Eigeneinschätzung vorgenommen. Das heisst, man muss eher von einem höheren Anteil ausgehen.
Weshalb muss man von einem höheren Anteil ausgehen?
Weil viele umgeschulte Linkshänder sich als Rechtshänder bezeichnen oder sagen, «ich war mal Linkshänder». Manche umgeschulten Linkshänder haben auch keine Erinnerung mehr an ihre Umschulung auf rechts als Kind. Bei dieser Gruppe kommt die tatsächliche Linkshändigkeit, wenn überhaupt, eher durch Zufall raus. Zum Beispiel, wenn sie konkret bei ihren Eltern nachfragen.
Tippe ich richtig, wenn ich sage, Sie beschäftigen sich deshalb schon so lange mit dem Thema, weil sie selber eine Linkshänderin sind?
Richtig, das trifft tatsächlich zu. Als ich mich damit zu befassen begann, gab es noch sehr viele Vorurteile. So ging man bei Linkshändern von einer höheren Sterblichkeit aus. Generell galt die Auffassung, dass Linkshänder abnormal sind. Im Christentum wurde die linke Seite sogar als etwas Böses geschimpft. Als wir dann Mitte der 80er-Jahre die Beratungsstelle aufbauten, hatten wir mit sehr vielen Vorurteilen zu kämpfen.
Woran erkenne ich denn überhaupt verlässlich, dass mein Kind ein Linkshänder-Kind ist?
Daran, dass das Kind für die meisten Dinge eindeutig die linke Hand bevorzugt. Das können Eltern unter Umständen schon im Krabbelalter beobachten, wenn Kleinkinder mit der linken Hand nach den Dingen greifen. Ab einem Alter von ein bis zwei Jahren zeigt sich dann vielfach eine klare Dominanz. Wobei man aufpassen muss. Nur weil ein Kind ab und an etwas mit der linken Hand macht, heisst das noch lange nicht, dass es ein Linkshänder ist. Wichtig ist vor allem, möglichst nur zu beobachten und nicht vor dem Kind darüber zu sprechen. Denn das kann bei Kindern Druck ausüben, weil sie möglichst normal und unauffällig sein wollen.
Wenn es aber mit links seine ersten Schreibversuche macht, dann ist das schon ein verlässlicher Indikator?
Auf jeden Fall. Schreiben ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Das macht man nicht einfach so «aus Spass» mit der linken Hand. Aber idealerweise steht ohnehin bereits vor dem Schuleintritt fest, ob ein Kind Rechts- oder Linkshänder ist.
Was, wenn mein Kind immer zwischen links und rechts hin und her wechselt?
Das kann vor allem ein Indikator dafür sein, dass es motorische Schwierigkeiten hat. Auf alle Fälle lohnt es sich in einem solchen Fall, eine zertifizierte Linkshänderberatung aufzusuchen. Ein stark wechselnder Handgebrauch kann entweder ein Hinweis auf eine Entwicklungsstörung sein, oder dass von aussen Einfluss auf die Händigkeitsentwicklung genommen wurde. Oder aber, dass sich das Kind an einer anderen Person orientiert und diese nachahmt. Umso wichtiger ist es, sein Kind zu beobachten. Wenn ihnen zum Beispiel auffällt, dass ihr Kind innerhalb der gleichen Tätigkeit immer wieder die Hand wechselt, lohnt es sich, die Händigkeit des Kindes von einer Spezialistin abklären zu lassen.
Gibt es auch Kinder, die beidhändig sind?
Normalerweise nicht. Wir Menschen haben eine dominante Hirnhälfte, die letztlich darüber entscheidet, ob wir Rechts- oder Linkshänder sind. So ist das auch bei vielen Tieren. Beidhändigkeit wird gerne idealisiert. Oft handelt es sich aber um Linkshänder, die aus verschiedenen Gründen nicht immer stringent die linke Hand benutzen, sondern im Handgebrauch wechseln. So schneidet ein Kind zum Beispiel mit rechts, weil schlicht keine Linkshänder-Schere im Kindergarten zur Verfügung stand. Oder aber es passt sich ganz einfach in vielen Situationen an seine rechtshändige Umwelt an.
Auch bei unserem Sohn wurde im Kindergarten probiert, ihn auf rechts umzustimmen, um es mal höflich auszudrücken. Eine gute Idee?
Auf gar keinen Fall! Das kommt nämlich einem Eingriff ins Gehirn gleich, wenn auch einem unblutigen Eingriff.
Wie meinen Sie das?
Alleine schon die sprachliche Abwertung der linken Hand kann bei Kindern dazu führen, dass sie sich selbst auf die rechte Hand umgewöhnen. Sich also quasi selber umschulen. Aus Ermahnungen und korrigierenden Bemerkungen zieht es den Schluss, dass es nicht normal ist, ein Linkshänder zu sein. Und weil Kinder in der Regel eben normal sein und sich integrieren wollen, passen sie sich ihrer Umwelt an.
Was sind denn die Folgen, wenn ein linkshändiges Kind auf Rechtshändigkeit umgeschult wird?
Die dominante Hirnhälfte möchte reagieren, darf es aber nicht. Die nicht dominante Hirnhälfte muss agieren, obwohl sie dazu nur bedingt in der Lage ist. Um es etwas plakativ zu sagen: Das Kind bleibt im Kopf ein Linkshänder, auch wenn es mit rechts schreibt. Das kann zu Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, feinmotorischen Problemen, schnellem Ermüden oder einer Manifestation mangelnder Intelligenz führen.
Manifestation mangelnder Intelligenz?
Ich sage bewusst «Manifestation». Denn diese Kinder sind nicht weniger intelligent, haben aber Schwierigkeiten, ihre Intelligenz auszudrücken und ihre Intelligenz voll zu entfalten. Das ständige Ausgleichen und der erhöhte Krafteinsatz sind für die Betroffenen sehr anstrengend. Das kann schlimmstenfalls zu psychosomatischen Problemen führen. Dasselbe passiert übrigens auch bei Rechtshändern, die sich etwa nach einem Unfall auf links umstellen müssen. Intelligente Kinder, die auch noch gut gefördert werden, können das ein Stück weit kompensieren.
Eine wichtige Rolle dürften demnach Schulen einnehmen. Wo stehen wir da heute?
Ich kann primär nur für Deutschland sprechen, wo das von Bundesland zu Bundesland anders gehandhabt wird. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Linkshändern an Schulen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und man glücklicherweise auf ein Umschulen verzichtet.
Doch damit dürfte es noch nicht getan sein?
Absolut richtig. Schauen Sie mal, wie Linkshänder Barack Obama jeweils seine Unterschrift auf ein Dokument gesetzt hat. Er tut dies mit der für Linkshänder typischen Hakenhaltung, die völlig unnatürlich ist und zu Verspannungen führt.
Hakenhaltung?
Früher, als noch vermehrt mit Tinte geschrieben wurde, mussten Linkshänder die Hand heben, damit die Tinte nicht verschmiert. Zwar durfte Barack Obama Linkshänder bleiben, aber er hat offensichtlich keine Unterstützung erhalten, eine richtige, lockere und entspannte Schreibhaltung zu erlernen. Das Problem ist, dass viele Lehrpersonen schlicht wenig Ahnung haben, wie sie Linkshändern eine lockere Schreibhaltung beibringen sollen, bei der das Kind auch sieht, was es in der vorausgehenden Zeile geschrieben hat.
Was, wenn ich realsiere, dass mein Kind von links auf rechts umgeschult wurde? Macht es Sinn, es wieder auf seine richtige Seite zurück zu schulen?
Ich wäre sehr vorsichtig, diese automatisierten Handlungen wieder rückgängig machen zu wollen. Man kann das machen, aber aus persönlicher Erfahrung weiss ich, dass das in der Regel zwei bis drei Jahre dauern kann und eng begleitet werden muss.
Verlassen wir kurz die Schule. Wie sieht es denn im Alltag aus? Erleben Sie persönlich da auch Nachteile?
Es gibt immer wieder Situationen, wo ich als Linkshänderin auf Hürden stosse und wo ich wieder verdeutlicht bekomme, dass die Welt für Rechtshänder ausgelegt ist. So war ich neulich in einem teuren Hotel. Dort gab es für den Haarfön nur auf der rechten Wand eine Steckdose, was zur Folge hatte, dass ich seitlich zum Spiegel stehen musste, um meine Haare föhnen zu können.
Letzte Frage: Sie haben eingangs gesagt, dass Linkshänder bis vor wenigen Jahrzehnten noch mit negativen Vorurteilen zu kämpfen hatten. Umgekehrt sagt man ja Linkshändern auch nach, besonders kreative Menschen zu sein. Ist da etwas Wahres dran?
Auch da wäre ich vorsichtig. Die Frage ist auch hier, was nehmen wir als Referenzwert? Wenn wir davon ausgehen, dass rund zehn Prozent der Gesellschaft Linkshänder sind, dann fallen die besonders kreativen Menschen natürlich auf. Wenn man aber eher von 20 Prozent ausgeht, dann dürfte der Anteil kreativer Menschen normaler Durchschnitt sein. Aufgrund meiner langjährigen Arbeit mit Linkshändern kann ich aber sagen, dass Linkshänder eher dazu tendieren, Dinge von allen Seiten anzudenken und anzugehen.
Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.