Mehr als Bratwurst, Bier und Stümpen: Impressionen vom Schwingfest
Schwingen ist in, nicht nur bei der Generation der Boomer. Auch immer mehr Junge sind Fans des Schweizer Nationalsports. Ein Augenschein beim 106. Kantonalen Schwingfest Baselland.
Rund 2 500 Besucherinnen und Besucher sind an diesem Sonntagnachmittag Anfang Mai auf dem Gelände des 106. Kantonalen Schwingfests Baselland in Oberwil. Wo der lokale Schwingclub in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert. Schwingen ist Schweizer Nationalsport und wird immer beliebter. Auch viele junge Gesichter sehe ich heute auf dem Festgelände. Etwa 400 000 Besucher:innen erwarten die Organisatoren des ESAF dann im Sommer. Das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest, das alle drei Jahre stattfindet, geht vom 26. bis 28. August in der Baselbieter Gemeinde Pratteln über die Bühne. Oder das Sägemehl. Und ist somit die grösste Sportveranstaltung der Schweiz. Doch zurück nach Oberwil ans Kantonale.
Geselligkeit wird grossgeschrieben: Was ist okay, was nicht?
Ich bin zum ersten Mal an einem Schwingfest. Und habe von diesem Sport wenig Ahnung. Ich weiss, dass der aktuelle Schwingerkönig Stucki Christian heisst und dass hier der Nachname stets vor dem Vornamen kommt. Ich weiss, dass man gewisse Schwinger auch «Die Bösen» nennt, obwohl der Sieger dem Verlierer jeweils das Sägemehl vom Rücken putzt. Was auf mich gar nicht so böse wirkt. Ich weiss, dass der Gewinner des Schlussgangs, quasi der Final eines Schwingfestes, nicht automatisch der Sieger des selbigen ist. Aber ich weiss nicht, warum das so ist. Das hat irgendwas mit einem Punktesystem zu tun. Ich weiss, dass es diverse unterschiedliche Schwünge gibt und dass Geselligkeit wichtig ist. Dann bin ich mit meinem Schwingerlatein aber auch schon am Ende. Gut, dass einer der Hauptsponsoren des Festes überall auf dem Gelände Schwinger-Knigges ausgelegt hat.
Gemäss diesen ist es okay während eines Schwingfestes: Bier zu trinken, bis zum Schlussgang zu bleiben, ein Edelweisshemd zu tragen, einen Feldstecher zu benutzen, ein Festabzeichen zu tragen, mehrmals die Festwirtschaft zu besuchen, Gehacktes mit Hörnli zu essen, zu jodeln, Kaffee mit Schnaps zu trinken, Krumme (Stümpfen) zu rauchen, Kuhglocken zu schwingen, Nussgipfel zu essen, Stümpfen zu rauchen (hier sind wahrscheinlich die Geraden gemeint), Znüni und Zvieri mitzubringen.
Nicht okay ist es: Abfall liegenzulassen, einen Anzug zu tragen, Cüpli zu bestellen, die VIP-Lounge zu suchen, Gegenstände in die Arena zu werfen, Kampfrichter zu kritisieren, kein Festabzeichen zu tragen, Krawatte zu tragen, einen Regen- oder Sonnenschirm mitzubringen, zu reklamieren, Schwinger auszupfeifen, High Heels zu tragen, vor dem Schlussgang nach Hause zu gehen.
Da ich: Nicht mehr rauche, weder gerade noch krumme Dinger, Nussgipfel nur bedingt gerne habe und Gehacktes mit Hörnli in der Festwirtschaft nicht angeboten wird, mein Feldstecher zu Hause liegt, ich weder ein Edelweisshemd noch ein Festabzeichen besitze und auch nicht jodeln oder Kuhglocken schwingen kann, entscheide ich mich für eine Bratwurst und ein Bier. Dann mische ich mich unters Volk.
Spitzensport hier, Festlaune da
In Oberwil wird auf vier sogenannten «Plätzen» geschwungen. Die Kampffläche hat laut dem Knigge in der Regel einen Durchmesser von acht bis zwölf Metern und besteht aus Sägemehl. 126 Schwinger aus verschiedenen Vereinen und Kantonalverbänden werden es am Ende des Tages schliesslich in die Schlussrangliste des 106. Kantonalen Schwingfest Baselland schaffen. Die besten Schwinger eines Festes erhalten jeweils einen Kranz aus Eichenlaub.
Kaum habe ich es mir mit der Bratwurst und dem Bier beim Platz drei bequem gemacht, machen die Schwinger Pause. Es ist bereits 15 Uhr und darum Zeit für den Festakt, den es wohl routinemässig an jedem Schwingfest gibt. Wäre ich bloss früher aufgestanden und am Morgen aufs Festgelände gekommen. Schliesslich wird schon seit 08:15 Uhr geschwungen.
Nach diversen Ansprachen von Regierungsräten, Gemeinde- und OK-Präsidenten folgt der musikalische Teil des Festaktes. Dabei wird gejodelt, ins Alphorn geblasen und Fahnen werden geschwungen. Und auch wenn dies sonst nicht meine Welt ist, berührt es mich, mit welcher Hingabe die Menschen bei der Sache sind. Es ist genau der richtige Rahmen für das Volkstümliche. In einem Wort, es ist: schön.
Anschliessend wird wieder geschwungen. Die letzten Gänge stehen an, bis es schliesslich zwei Schwinger in den Schlussgang geschafft haben. Und die kämpfen nicht nur um Ehre und Kränze, sondern auch um handfeste Preise. Dem Gewinner winkt das Simmentaler Siegermuni «Galaxy». Nicht zu verwechseln mit dem grössten Schweizer Onlinehändler. Wir haben damit nichts zu tun. Gespendet wurde das Muni von einer lokalen Metzgerei. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Auch für den zweiten und dritten Platz gibt es von anderen Sponsoren Lebendpreise. Die heissen «Brunleua» und «Alterna». Die übrigen Schwinger dürfen sich im Gabentempel dann einen der zahlreichen Sachpreise aussuchen.
Um 16:30 Uhr startet der Schlussgang. Dabei begegnen sich im Sägemehl von Oberwil die beiden Freiämter Clubkollegen Strebel Joel und Döbeli Andreas. Wobei letzterer nach exakt 10:08 Minuten mit Kurz und Überdrücken am Boden gewinnt. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was das genau bedeutet, es sieht aber auch aus der Ferne ziemlich spektakulär aus.
Dann ist Schluss, das war's vom 106. Kantonalen Schwingfest Baselland in Oberwil. Die 2 500 Besucher:innen machen sich langsam auf den Heimweg. Darunter auffallend viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Dieser Sport kommt auch bei jüngeren Generationen gut an und scheint immer beliebter zu werden. Zu meiner Zeit als Teenager wäre ich vermutlich belächelt oder gar ausgelacht worden, hätte ich am Sonntag ein Schwingfest besucht. Das war «uncool». Heute ist es anders, jüngere Generationen haben anscheinend einen entspannteren Umgang mit den eigenen Traditionen. Und das ist ganz okay so. Denn die Verbindung von Spitzensport und Volksfeststimmung macht gute Laune. Ich auf jeden Fall mache mich beschwingt auf den Weg nach Hause und werde Ende August sicher einen Abstecher nach Pratteln ans ESAF 2022 unternehmen. Mit Feldstecher und Festabzeichen.
Eintauchen in fremde (Sport)welten
Die eigene Bubble ver- und sich auf neue Erfahrungen einlassen. Ist Schwingen altmodisch oder Baseball langweilig? Und was treibt eigentlich erwachsene Männer dazu, mit Modellautos zu spielen? Diesen und ähnlichen Fragen versuche ich in unregelmässigen Abständen auf den Grund zu gehen. Bisher zu diesem Thema erschienen:
Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.