Schweizer Seiden-Revival: In Bern lebt eine alte Tradition wieder auf
10/4/2024
Zeit und Geduld verwandeln die Blätter des Maulbeerbaums in Seide. Einer, der das aus erster Hand weiss, ist Ueli Ramseier. Der Vereinspräsident von Swiss Silk hat uns in der Berner Seidenmanufaktur begrüsst.
«Bei der Herstellung von Seide darfst du nie in Eile sein. Nicht beim Pflanzen der Bäume. Nicht bei der Aufzucht der Seidenraupen. Nicht beim Abwickeln des Kokonfadens. Einfach immer mit der Ruhe, dann kommt das gut», meint Landwirt und Textilingenieur Ueli Ramseier, als er mir stolz einen Strang sauber aufgereihter Seidenfäden präsentiert – glatt, glänzend, strahlend weiss. So stelle ich mir die Mähne eines anmutigen Fabelwesens vor. Mein erster Impuls ist, sie anzufassen. Die Seide wirkt so kostbar, dass ich zögere. «Nur zu», meint Ueli. Ich lasse meine Hand über die Fäden gleiten, die später zu Organza, Damast, Taft und Twill verwoben werden. Sie fühlen sich so edel an, wie sie aussehen.
Rund 15 Jahre ist es her, dass Ueli Ramseier gemeinsam mit fünf Landwirtinnen und Landwirten die Vereinigung der Schweizer Seidenproduzenten Swiss Silk gegründet hat. Mittlerweile sind zehn weitere Seidenbegeisterte dazugestossen, die die hiesige Tradition wiederbeleben. Tatsächlich kann die Seidenproduktion in der Schweiz bis ins späte Mittelalter zurückverfolgt werden. Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte sie gar zu den wichtigsten Industriezweigen des Landes, die Zürcher Seidenhöfe zu den führenden Produzenten weltweit. Die Seidengasse im Kreis eins erinnert noch heute an diese Zeit.
Neuer Seiden-Hotspot Bern
Fast zwei Jahrhunderte später, 120 Kilometer weiter westlich, führt Swiss Silk nun eine Renaissance der Schweizer Seide herbei. Die überschaubare Seidenmanufaktur in Bolligen, Bern, war laut Vereinspräsident Ueli bis vergangenen November sogar der einzige Betrieb in Europa, der Kokons zu Seidenfäden verarbeitet.
Textilien werden in der Produktionsstätte nicht hergestellt. Das Zwirnen und Weben übernehmen Schweizer Traditionsunternehmen wie Weisbrod oder Minnotex in einem nächsten Schritt. Die Stoffe aus der Seide von Swiss Silk werden später in vielfältigen Anwendungen genutzt. So stellt das Einrichtungsgeschäft Pfister daraus Vorhänge her, Designer Rafael Kouto Kleidung für sein nachhaltiges Label, die Schneiderinnen der Bernischen Trachtenvereinigung traditionelle Trachtenschürzen.
Wenn das Rohmaterial in der Manufaktur ankommt, hat es eine komplett andere Gestalt. Dicht gewickelt und verklebt zu einem harten eiförmigen Gehäuse, für dessen Bau die Raupe des Maulbeerspinners drei Tage braucht. Die Landwirtinnen und Landwirte des Vereins züchten sie in den Sommermonaten als Nebenerwerb. Gefüttert werden die Tiere ausschliesslich mit den Blättern des Maulbeerbaumes. Ein Gewächs, das ursprünglich aus China, dem Ursprungsland der Seide, stammt, hier in der Schweiz aber wunderbar gedeiht.
Massive Maschinen, zarte Handarbeit
Ueli öffnet eine von dutzenden blauen Tonnen voller Kokons, die in der Manufaktur gelagert werden: «Sie müssen sicher aufbewahrt werden – die Mäuse sind verrückt danach.» Jeweils zu viert suchen er und sein Team aus den Tausenden von Kokons die grössten, rundesten und weissesten heraus. Nur rund ein Drittel der Ernte taugt für die hochwertige Haspelseide, die aus dem bis zu zwei Kilometer langen Faden aus dem Mittelteil des Kokons besteht.
Die zweitbesten Kokons werden an das deutsche Unternehmen Fibrothelium geliefert, das auf die Herstellung von Proteinlösungen aus Seide spezialisiert ist und daraus unter anderem medizinische Implantate herstellt. Das letzte Drittel, das aufgrund von Verfärbungen und Verunreinigungen aussortiert wird, fliesst gemeinsam mit den Produktionsresten in die Verarbeitung der sogenannten Schappeseide, die Swiss Silk dieses Jahr erstmals selbst produziert. Sie besteht nicht aus dem Endlosfaden des Mittelteils, sondern aus Kurzfasern, die zu einem feinen Garn gesponnen werden.
Hinter den massiven Maschinen in der Fabrik verbirgt sich ein zarter Prozess. Das Abhaspeln ist ein Handwerk, das ebenso wie die Aufzucht der Seidenraupen viel Fingerspitzengefühl verlangt. Bei jedem Kokon wird der harte Anfang des Fadens mit einem kleinen Besen gelockert. Danach wickelt eine Maschine jeweils acht Kokons parallel ab und spinnt sie zu einem einzigen Rohseidenfaden. Einfädeln kann sie die Kokonfäden nicht selbst. Hier sind flinke Finger gefragt: Bis zu 2500 Kokons werden an einem Tag abgewickelt – das entspricht etwa 350 Kilometern Seidenfaden. Das ganze Verfahren kommt übrigens ohne den Einsatz bedenklicher Chemikalien aus. Die Kokons werden lediglich in Wasser eingeweicht.
Von äusseren und inneren Werten
Ueli führt uns ins «Labor» von Swiss Silk, wie er mit einem ironischen Augenzwinkern anmerkt. Sie seien ja schliesslich keine Forschenden, sondern Handwerkerinnen und Handwerker, die einen guten Faden herstellen wollen. Mir springt eine kunstvolle antike Waage ins Auge. «Ein schönes Stück, was?», meint der 62-Jährige begeistert und zeigt, wie damit die Fadenstärke, also die Dicke, geprüft wird.
Als Gewichtseinheit dient die alte französische Gewichtseinheit Denier, die auch für Strumpfhosen verwendet wird und in Gramm pro 9000 Meter gemessen wird. Der Seidenfaden von Swiss Silk entspricht etwa 20 Denier – und darf somit pro neun Kilometer gerade mal 20 Gramm wiegen.
Eine weitere Probe wird auf ein schwarzes Brett gespannt und mit blossem Auge nach Unregelmässigkeiten wie kleinen Noppen abgesucht. In einem dritten Schritt wird die Kohäsion, also die Robustheit des Fadens, getestet – von Hand. Es gebe zwar spezielle Maschinen, dazu fehle Swiss Silk jedoch momentan das Geld. Ueli nimmt den Faden zwischen die Finger und schabt mit dem Nagel darüber: «Ist er nach zehn Mal noch stabil, ist die Qualität gut. Nach fünf Mal soso lala. Alles darunter ist schlecht.» Rund 20 Prozent fallen in die letzte Kategorie. Sie können nur für bestimmte Stoffe wie etwa Jacquard verwendet werden. Im Allgemeinen sei die Qualität der Schweizer Seide «anständig», aber es gebe in puncto Gleichmässigkeit und Kohäsion noch Luft nach oben.
«Hörst du das?», fragt Ueli. In der Fabrik ist ein konstantes Klicken wahrnehmbar. «Das ist ein Ventil, das sich öffnet und schliesst. Es speist während des Abwickelns stetig warmes Wasser ein.» Sie hätten es selbst eingebaut. Eine kleine Modifikation, die für das wohl auffälligste Merkmal der Schweizer Seide verantwortlich ist: ihr strahlendes Weiss. Für Ueli stellen jedoch die inneren Qualitäten der Seide von Swiss Silk das Besondere dar. Sie sei nachvollziehbar, greifbar, die Menschen dahinter spürbar: «Du kannst im Sommer zur Bäuerin gehen und schauen, wie sie die Raupen aufzieht, wo die Maulbeerbäume wachsen. Auch unsere Manufaktur steht im Winterhalbjahr jeweils Samstagvormittag für alle offen.»
Zweiwöchiger Crashkurs in Indien
Als Ueli das Projekt Swiss Silk ins Leben rief, brachte er einen beeindruckend vielfältigen Hintergrund mit: zwei Lehrabschlüsse als Textilingenieur und Landwirt, eine Ausbildung als Lehrer, zwei Bachelorabschlüsse in Biochemie und Religionswissenschaften sowie einen Master in Ethnologie. An praktischer Erfahrung in der Herstellung des Seidenfadens fehlte es ihm jedoch gänzlich.
«Ich bin damals nach Indien gegangen und habe gesagt: Ich kaufe so eine Maschine, aber ich muss erst lernen, wie sie funktioniert», sagt Ueli lachend. Nach einem zweiwöchigen Crashkurs sei er natürlich noch ein totaler Anfänger gewesen. Zurück in der Schweiz hiess es dann: Ausprobieren und Scheitern – bis es klappt. Vieles hätten er und sein Team sich autodidaktisch angeeignet: «Teils sind wir fast verzweifelt, ich musste viele Leute trösten. Mittlerweile sind sie alle totale Spezialistinnen.»
Ueli denkt gerne an die Anfangszeiten zurück. «Manche dachten zwar wir spinnen – aber die meisten Leute fanden unser kleines Experiment lässig», erinnert er sich. Es sei in gewisser Weise eine Spielwiese gewesen, verbunden mit viel Freiwilligenarbeit. Diese Phase ist nun vorbei und Swiss Silk steht vor neuen Herausforderungen: «Wir müssen lernen, wie ein KMU zu denken. Gerade sind wir dabei, eine langfristig stabile Finanzstrategie aufzustellen und uns organisatorisch zu professionalisieren.»
Umgang mit dem Töten von Lebewesen
Immer wieder sieht sich Ueli auch mit ethischen Bedenken konfrontiert. Dass die Kokons nach der Ernte in Spezialöfen samt den Puppen getrocknet werden, ist für einige Menschen nicht vertretbar. Lässt man die Falter jedoch schlüpfen, wird der Kokon und damit der Endlosfaden beschädigt, der für die Haspelseide unerlässlich ist. «Ich kriege regelmässig kritische Emails von Leuten und verstehe deren Sichtweise», sagt Ueli. Er befasse sich selbst intensiv mit dem Thema: «Doch als Bauer muss ich einen Umgang mit dem Töten von Lebewesen finden. Sei es, um Seide zu produzieren oder meine Äpfel vor Mäusen zu schützen. Das ist nicht leicht – und darf es auch nicht sein.»
Die meisten wirbellosen Tiere, einschliesslich Insekten, sind in der Schweiz vom Tierschutzrecht ausgenommen. Aus diesem Grund hat Swiss Silk einen eigenen Standard für eine «tierfreundliche Haltung» der Seidenraupen entwickelt. Er verbietet unter anderem den Einsatz von Hormonen, begrenzt den Transport auf maximal sechs Stunden und legt bestimmte Haltungsbedingungen, wie etwa natürliches Licht, fest.
Nichts wird weggeworfen – nicht einmal der Kot
Respekt und Wertschätzung gegenüber den Lebewesen bedeuten für Ueli auch, möglichst alles vom Tier zu verwerten. Weggeworfen wird in der Seidenherstellung so gut wie nichts – aus Überzeugung. Aus dem Seidenleim, der den Kokon zusammenhält, wird ein Balsam hergestellt. Der harte Anfang des Seidenfadens fliesst in die Produktion von Seifenblöcken ein. Die getrockneten Puppen werden vom Kleinnager-Shop Samtpfötli als Futter für Goldhamster vertrieben.
«Mich fasziniert, dass man wirklich alles brauchen kann. Sogar den Kot der Seidenraupen. Er ergibt einen super Kompost. In der traditionellen chinesischen Medizin wird er getrocknet und als Tee serviert», erklärt Ueli und hält mir ein Gläschen getrockneten Raupenmist unter die Nase. Er riecht wie Schwarztee.
Mit solch einem edlen und wertigen Material arbeiten zu dürfen, sei ein grosses Privileg. «Die Seide berührt mich in ihrer Schönheit», schwärmt Ueli. Wenn er von der Schönheit der Seide spricht, meint er nicht bloss ihren Glanz und ihre Feinheit. Er spricht vom raffinierten Entstehungsprozess vom Maulbeerblatt bis zur Seide. Von der facettenreichen Wertigkeit des Kokons. Von der kulturellen Bedeutung und der jahrtausendealten Geschichte des edlen Materials – der er gerade mit Gleichgesinnten ein neues Kapitel hinzufügt.
Titelbild: Christian Walker
Hat grenzenlose Begeisterung für Schulterpolster, Stratocasters und Sashimi, aber nur begrenzt Nerven für schlechte Impressionen ihres Ostschweizer Dialekts.