Ratgeber
Zu Besuch bei einer Sexologin
von Natalie Hemengül
Wann hast du in einem Film zuletzt gesehen, dass ältere Menschen miteinander intim wurden? Du kannst dich nicht erinnern? Dafür gibt es Gründe, erklärt Sexualtherapeutin Dania Schiftan.
Zur Vorbereitung auf diesen Beitrag habe ich mir einen Film angeschaut. «Wolke 9» erzählt die Geschichte der 70-jährigen Inge, die seit 30 Jahren mit ihrem Werner verheiratet ist. Dann verliebt sie sich in Karl. Er wird bald 80. «Es ist Leidenschaft. Es ist Sex», heisst es über die Romanze auf der Rückseite der DVD-Hülle. Zwei Schlagworte, die ich intuitiv nicht mit dem Altern in Verbindung bringen würde. Oder möchte? Mein Unbehagen vor dem Fernseher wurde jedenfalls von Minute zu Minute grösser. An manchen Stellen konnte ich gar nicht richtig hinsehen und vergrub mein Gesicht im Sofakissen. Dabei hatte ich schon weitaus mehr in Filmen hingenommen. Mehr Haut, mehr Körperteile, mehr Sex. Doch alternde Körper, die sich lieben, waren nie darunter. So viel Realität wirkt zu meinem eigenen Entsetzen befremdlich. Aber wieso ist das so? Sexualtherapeutin Dania Schiftan hat Antworten.
Dania, ich habe mir auf deine Empfehlung hin den Film «Wolke 9» angeschaut. Ich muss aber gestehen, dass ich mit den Sexszenen so meine Mühe hatte. Geht das nur mir so?
Dania Schiftan, Sexologin und Psychotherapeutin: Nein, damit bist du nicht alleine. Unser Auge ist diesen Anblick nicht gewohnt. Und was wir nicht sehen, gibt es nicht – zumindest in unserem Kosmos. In Filmen, auf den Plakaten am Strassenrand und in der Werbung haben ausschliesslich junge Menschen Sex. Sie sind straff, schön, ästhetisch. Ihre Körper sind gut durchtrainiert und bewegen sich gekonnt. Dass auch ältere Menschen Sex haben, wird ausgeblendet. Aus diesem Grund existieren davon auch keine Bilder in unserem Kopf.
Mit so viel Schamgefühl meinerseits habe ich trotzdem nicht gerechnet. Danach habe ich mich regelrecht schuldig gefühlt.
Es ist völlig normal, dass uns das Fremde Angst macht. So ist es auch für viele Menschen schambesetzt und schwierig, sich zum Beispiel Vulven anzusehen. Weil sie den Anblick nicht gewohnt sind, stufen sie sie zunächst als etwas Unschönes und Hässliches ein. Du bist also nicht intolerant, böse oder ungerecht, wenn dir das Hinschauen Mühe macht, sondern ganz normal. Die meisten Menschen reagieren auf ungewohnte, neue Dinge mit Zurückhaltung oder Abwehr. Doch es macht Sinn, sich damit auseinanderzusetzen, weil es uns eben auch irgendwann betreffen wird.
Weshalb finden ältere Menschen in diesem Kontext keinen sichtbaren Platz?
Niemand möchte sich seine Eltern oder gar Grosseltern beim Sex vorstellen. Das begünstigt den hartnäckigen Mythos, dass man im Alter keine Sexualität mehr hat. Dass das Verlangen irgendwann nachlässt, «es» sich irgendwann nicht mehr gehört oder Sex schlicht nicht mehr möglich ist. Nichts davon ist wahr. Im Gegenteil.
Wie sieht die Realität denn aus?
Fragt man Menschen zwischen 65 und 80 nach ihrem Wunsch nach Zärtlichkeit, sagen über 90 Prozent, dass sie sich sehr wohl nach Nähe, Streicheleinheiten und Liebkosungen sehnen. Und auch der Wunsch nach Geschlechtsverkehr ist noch da. Es ist möglich, bis ins hohe Alter eine erfüllte Sexualität zu leben. Wir sprechen nur nicht darüber.
Können wir das ändern?
Wir altern alle und wissen: Das wird mir eines Tages auch passieren. Das Thema wegzuschieben, ist deshalb nicht sehr hilfreich. Viel schlauer ist es, sich frühzeitig damit auseinanderzusetzen. Sich einen Film wie «Wolke 9» gezielt anzuschauen, kann eine gute Übung sein. Denn sobald ich merke, dass mich das, was ich sehe, irritiert, kann ich lernen, damit umzugehen.
Wie geht die betroffene Generation damit um?
Vielen fällt es schwer, über ihre Sexualität zu sprechen. Sie glauben sogar oft, dass ihr Wunsch nach Sex falsch ist. Vielleicht, weil der beste Freund in einem Gespräch einen unsensiblen Spruch losgelassen hat. Oder weil ihre Ärztinnen oder Therapeuten das Thema nicht ernst nehmen. Schnell entsteht dann Scham und die Einstellung: «Damit muss ich mich jetzt halt abfinden, da geht nichts mehr!»
Sexuelle Bedürfnisse verschwinden also nicht, nur weil man ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hat. Aber zu sagen, dass alles gleich bleibt, entspräche wohl auch nicht der Realität. Welchen Hindernissen begegnen Menschen in ihrer Sexualität im Alter?
Mit dem Alter verändert sich unser Körper. Muster und Gewohnheiten, auf die wir uns bisher verlassen konnten, funktionieren unter Umständen nicht mehr: Plötzlich schmerzt das Knie in der Lieblingsstellung oder die Muskeln werden schwächer, das Bindegewebe lässt nach. Frauen haben es oft mit einer trockenen, rissigen Schleimhaut zu tun. Oder sie nehmen wahr, dass sich der Klitoriskopf nicht mehr so gut stimulieren lässt wie in jungen Jahren. Auch die Ausdauer ist nicht mehr dieselbe. Männer stellen sich schnell infrage, wenn sie nicht mehr so hart werden, wie sie es sich gewohnt waren.
Wie geht man am besten mit solchen Veränderungen um?
Jetzt gilt es, neue Gewohnheiten zu entwickeln und sich an die veränderte Situation anzupassen. Das ist eine Herausforderung und der Knackpunkt, an dem sich viele von einem aktiven Sexleben verabschieden. Sie sind frustriert, geben auf und sagen sich: «Das war’s jetzt!» Dabei sind wir ein Leben lang fähig zu lernen und zu adaptieren. Wir können uns anpassen und herausfinden, dass eine neue Stellung uns ebenso erregt. Wenn wir uns darauf einlassen, können wir im Alter die leisen Nuancen der Sexualität entdecken und sie als sehr erfüllend wahrnehmen. Damit Sexualität im Alter gelingt, braucht es ein erweitertes Lernen.
Das heisst?
Ein Mann, der glaubt, dass sein Penis entweder ganz hart sein muss oder gar nichts geht, verpasst all die Facetten, die Sex im Alter noch für ihn bereithält. Würde er sich darauf einlassen, könnte er entdecken, welche langsamen Berührungen er am Penis auch als angenehm empfindet. Welche anderen Zärtlichkeiten ihm auch gefallen könnten. Im ersten Moment scheint das vielleicht ein Rückschritt zu sein. Doch mit etwas Übung kann sich so eine komplett neue Sexualität entwickeln, die die Bedürfnisse nach Nähe und Zärtlichkeit befriedigt.
Wir müssen demnach weg von der «Ganz oder gar nicht»-Mentalität?
Genau! An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es selbstverständlich auch medizinische Ursachen gibt, die im Alter einen Einfluss auf unsere Sexualität haben. Neurologische Beschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eine Krebsdiagnose zum Beispiel. Auch Medikamente wie Antidepressiva haben häufig einen negativen Einfluss auf die Lust und Erregbarkeit. Grundsätzlich gilt, dass jede Art körperlicher Beschwerde medizinisch abgeklärt werden sollte. Für viele Probleme gibt es leichte Abhilfe.
Hast du Beispiele?
Bei trockenen Schleimhäuten kann eine spezifische Creme eine Unterstützung sein. Auch der Griff zu einem Potenzmittel muss nicht ausgeschlossen werden. Vorausgesetzt, dass die Freude an der eigenen Lust im Vordergrund steht und nicht der Wunsch nach Leistung und Performance. Es gibt immer Wege zu erforschen, wie Sexualität trotz aller Herausforderungen gelebt werden kann.
Das Credo im Alter lautet also: kreativ bleiben!
Neben dem reinen Geschlechtsverkehr gibt es unzählige Möglichkeiten, die eigene Sexualität zu leben. Vielleicht dürfen am Lebensabend die sinnlichen Potenziale von Massagen, sanften Liebkosungen, Küssen und Berührungen entdeckt werden. Das A und O bleibt auch im Alter, dass wir unserer Sexualität Raum geben und über sie sprechen.
Alle weiteren Beiträge aus der Serie findest du hier:
Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.