Später Frost bringt Obstbauern ins Schwitzen
Auch dieses Jahr hatten Schweizer Obstbauern mit spätem Frost zu kämpfen. Wie sie gegen ihn vorgehen, weshalb Eis helfen würde und was der Frost mit den Nerven der Obstbauern macht: Ich war in der Frostnacht dabei.
Seit ein paar Jahren ist mein Bruder Pascal im Frühling nervös. Der Grund ist ganz einfach: Immer dann, wenn sich Mensch und Natur auf das Ende des Winters eingestellt haben, gibt dieser ein Comeback. So geschehen auch dieses Jahr Anfang April. Schneefall bis in tiefe Lagen. Frostige Nächte. Minustemperaturen. So weit liegt Weihnachten gar nicht mal zurück. Während wir Menschen einfach nach Schal und Mütze greifen, ist die Natur den garstigen Verhältnissen schutzlos ausgeliefert. Zumindest wäre sie das, wäre da nicht mein Bruder, der dem Frost heroisch die Stirn bietet. Pascal betreibt in Egnach (TG) am Bodensee auf neun Hektaren einen Obstbetrieb mit Äpfeln, Birnen und Kirschen.
Als ich Ende März den Wetterbericht mit dem angekündigten Frost studierte, entschied ich mich spontan, meinen Bruder bei der Frostbekämpfung zu unterstützen. Also reiste ich an den Bodensee, obwohl noch gar nicht zu 100 Prozent sicher war, ob ich oder die Frost-Abwehr zum Einsatz kommen würden. Zwar war der angekündigte Frost heftig. Aber dank einer überraschend aufziehenden Wolkendecke sanken die Temperaturen dann doch nicht so stark. So konnte ich in der ersten Nacht im warmen Bett liegen bleiben. Nicht so mein Bruder, der die Nacht im Halbschlaf auf dem Sofa mit dem Handy neben sich verbrachte. Auf diesem hat er eine App installiert, die Daten seiner Wetterstation liefert. Würde die Temperatur unter -1 Grad sinken, würde die App sofort Alarm schlagen. Doch kälter als knapp unter null Grad wird es in dieser Nacht nicht.
Kirschknospen entwickeln sich früher und sind deshalb anfälliger
Ab welcher Temperatur wirds denn kritisch? «Das kann man nicht generell sagen», führt Pascal aus. Das hängt davon ab, wie weit die Knospen an den Bäumen schon entwickelt sind. «Je weiter fortgeschritten die Knospenentwicklung ist, desto empfindlicher sind diese.» Deshalb sind Kirschbäume anfälliger als Apfel- oder Birnbäume, bei denen die Entwicklung länger dauert.
Bei Apfel- und Birnenbäumen gäbe es – anders als bei Kirschen – eigentlich eine genauso effektive wie auch überraschende Methode, die Knospen vor Frost zu schützen: nämlich mit Eis. «Wenn man die Bäume mit Wasser besprüht, bildet sich eine relativ dicke Eisschicht um die Knospen, die dann quasi konstant bei null Grad isoliert sind.»
Doch mein Bruder verfügt nicht über eine solche Wassersprüh-Anlage, weswegen wir in der zweiten Nacht doch hinaus in die Anlage müssen. Um 2 Uhr morgens sinkt die Temperatur unter -1 Grad, was uns zum Glück bloss wörtlich in die Knie zwingt. Rund 400 Kerzen, die mein Bruder am Vortag zwischen seinen Bäumen platziert hat, müssen angezündet werden.
Während ich mich ausgerüstet mit Gasbrenner und Anzündwürfeln in der Hand von einer Kerze zur nächsten bewege und ab und zu hoch in den wolkenlosen Himmel schaue, komme ich trotz Minustemperaturen schnell ins Schwitzen. Es dauert nicht lange, und das Gelände ist in warmes Kerzenlicht getaucht. Die Szenerie erinnert jetzt ein bisschen an eine Goa-Party. Oder ein geheimes Sektentreffen.
Trotz der grossen Menge machen die Kerzen nur einen kleinen Teil der Frostbekämpfung aus. «Erstens sind sie nicht besonders effizient. Zweitens bräuchte es Tausende von Kerzen, um die ganze Anlage zu schützen», erklärt mein Bruder. «Zwar erwärmen die Kerzen die Luft nur bedingt. Aber es reicht, damit es zu Luftumwälzungen kommt und die kalte Luft nicht in den tieferen Lagen verharrt.» Weil sich jedoch abzeichnet, dass späte Frosteinbrüche eher Normalfall denn Ausnahme sein werden, hat Pascal Stacher sich zusätzlich gewappnet. So kommen in dieser Nacht noch zwei sogenannte Frost Guards zum Einsatz. Das sind zwei gasbetriebene Gebläse, aus denen bis zu 100 Grad heisse Luft strömt. Eine Forst Guard deckt rund eine Hektare ab.
Doch das Herzstück seines «Dispositivs», wie es Pascal gerne nennt, ist der Fog Dragon – zu Deutsch Nebel Drachen –, den er sich vor zwei Jahren angeschafft hat. Hierbei handelt es sich um einen geschlossenen Anhänger, mit dem mein Bruder bis zum späten Morgen in der Anlage herumfahren wird.
Während ich mich eingepackt in Regenhosen und dicker Jacke zwischen den Baumreihen fortbewege, sehe ich in der Ferne die Scheinwerfer des Traktors, der hinter sich den Fog Dragon herzieht. Drachen trifft es ziemlich genau. Denn nebst Rauch speit das Teil auch Haufenweise Glut. Der Grund: Im Innern lodert ein grosses Feuer aus Holzscheiten. Dessen Rauchpartikel werden zusammen mit Wasserdampf in der Anlage versprüht. Dieser Wasserdampf-Rauch-Nebel bildet dann eine Art Decke, die verhindert, dass die Wärme der Erde nach oben in den klaren Himmel abzieht. Schön für die Knospen, weniger angenehm für mich, der nicht zu wenig von der Rauch-geschwängerten Luft abbekommt.
2017 richtete der Frost landesweit Schäden in Höhe von 100 Millionen Franken an
Mein Bruder fährt von 2 Uhr bis fast 9 Uhr morgens unaufhörlich mit diesem Anhänger durch die Anlage. Da habe ich es schon besser. Denn habe ich – zusammen mit Pascals Frau – erst einmal alle Kerzen angezündet, kann ich mich um etwa halb 5 Uhr ins Bett legen. Knapp 5000 Franken kostet Pascal der Einsatz in dieser Nacht ungefähr, Kerzen, Gas und Amortisation seines Nebeldrachens mitberücksichtigt. Gut investiertes Geld, wie mir mein Bruder erklärt. «Wäre ich tatenlos geblieben, hätte ich bei den Kirschen vielleicht einen Ernteausfall von über 60 Prozent zu beklagen gehabt», ist er überzeugt. «Die Apfelknospen sind zwar resistenter. Aber auch wenn die Knospe nur teilweise kaputt ist, wird daraus keine grosse Frucht, wodurch ich sie nicht als Tafel-, sondern nur noch als Mostobst verkaufen kann.» Ich frage meinen Bruder: «Wieso schliesst du nicht einfach eine Versicherung ab?» – «Erstens ist es ja nicht Sinn und Zweck eines Obstbetriebs, dank Versicherungsleistungen zu überleben. Und zweitens sind die Versicherungsprämien auch ziemlich hoch.»
Das erstaunt in Anbetracht der vielen Frostschäden in den letzten Jahren nicht. «2017 hatten wir extremen Frost, der praktisch zu einem Totalausfall und einem geschätzten Schaden von 100 Millionen Franken geführt hat», sagt Beatrice Rüttimann, Mediensprecherin beim Schweizer Obstverband. Ähnlich wie Pascal Stacher würden auch viele anderen Obstbauern deshalb in die Bekämpfung des Frosts investieren. «Doch das alleine wird wohl nicht reichen», ist Rüttimann überzeugt. Vielmehr mache es Sinn, neue, kälteresistente Sorten zu züchten, die mit dem Frost besser klarkommen. «Aufgrund vieler Rückmeldungen von Obstbauern gehe ich davon aus, dass wir heuer noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen sind, wobei in der Regel nicht jede Region gleich betroffen ist», sagt Rüttimann. Endgültig durchatmen können die Obstbauern aber noch nicht. Wer weiss, vielleicht kommt der Winter im Mai zu den Eisheiligen plötzlich nochmals auf die Idee, ein Gastspiel zu geben. «Aber man darf nicht vergessen, dass die Natur quasi auf Vorrat arbeitet. Sprich: Nur aus zirka zehn Prozent der Blüten muss es am Ende Früchte geben, um von einem guten Ertrag zu sprechen», erklärt Rütimann. Im Moment ist der Obstverband sehr zuversichtlich, dass im Sommer ausreichend Früchte geerntet werden können.
Schuld an den Frostschäden ist die Klimaerwärmung
So paradox es klingen mag: Die Frostschäden sind die Folge des Klimawandels und mit ihm der Erderwärmung. «Wegen der Klimaerwärmung und den damit höheren Temperaturen beginnen die Pflanzen früher zu blühen, oft schon im März», sagt Gaudenz Flury, Meteorologe bei SRF Meteo. «Ein Beispiel: Der Kirschbaum blühte von 1900 bis 1960 kaum vor dem April. Heute ist ein früher Blühbeginn im März eher die Regel als die Ausnahme.» Das Frostrisiko sei sozusagen ein Wettlauf zwischen dem Blühbeginn und dem «letzten» Frost, welche beide tendenziell früher im Jahr auftreten. «Das Problem wird uns auch in Zukunft beschäftigen. Denn die Pflanzen werden immer früher zu blühen beginnen», sagt Flury. Mit Frostperioden müsse man auch in Zukunft rechnen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für späten Frost wegen der Erderwärmung abnehmen würde.
Kurz vor dem Einschlafen blicke ich aus dem Fenster und sehe all die Kerzen zwischen Bäumen leuchten. Auch die beiden Heissluft-Gebläse und Pascal auf seinem Traktor sind deutlich zu hören. Spontan frage ich mich: «Ist das nicht irgendwie paradox? Da verbrennt mein Bruder – der seinen Betrieb just jetzt auf Bio umstellt – Hunderte von Paraffin-Kerzen und Gas, um die Folgen der Klimaerwärmung zu bekämpfen.» Ich nehme mir vor, meinen Bruder darauf anzusprechen und schlafe zum Motorengeräusch des Traktors ein.
Kerzen können früher als geplant gelöscht werden
Es ist morgens um halb 9 Uhr. Nach etwas weniger als vier Stunden Schlaf stehe ich auf und schaue nach draussen. Die Kerzen sind abgelöscht und die Metallkübel haben teils einen Deckel drauf. Wie ich später erfahre, hat Pascals Mitarbeiter die Kerzen bereits nach vier Stunden ausgemacht, obwohl diese rund acht Stunden brennen würden. Es war am Morgen doch nicht so kalt wie befürchtet.
Mehr im Halbschlaf als wach, mache ich mir in der Küche Kaffee, giesse diesen in eine Thermoskanne und mache mich mit ihr auf den Weg nach draussen zu meinem Bruder. Unermüdlich dreht Pascal mit seinem Traktor immer noch seine Runden durch die Anlage. Müde, aber sichtlich zufrieden, nimmt er die Thermoskanne entgegen. «Ob ich mit einem blauen Auge davon gekommen bin, wird sich erst bei der Ernte abschliessend zeigen.» Man dürfe aber nicht vergessen, dass die Eisheiligen erst noch kommen, «und bis dahin kann es nochmals klöpfen».
Bevor ich völlig durchnächtigt mit dem Zug nach Hause fahre, muss ich Pascal noch die Frage stellen, die mich vor dem Einschlafen beschäftigt hat. «Pascal: Ist es nicht irgendwie irrwitzig, dass Du die Folgen der Klimaerwärmung mit dem Abfackeln von Kerzen und Gas bekämpfst?»
Mein Bruder ist um eine schnelle, und wie ich finde einleuchtende Antwort nicht verlegen. «Natürlich mache ich mir darüber auch Gedanken. Am Schluss ist es immer ein Abwägen.» Unter dem Strich sei er überzeugt, dass sich sein Kampf gegen den Frost nicht nur wirtschaftlich, sondern eben auch ökologisch rechnet. «Ich produziere jährlich rund 400 Tonnen Obst auf meiner Anlage. Wenn der Frost einen Grossteil meiner Früchte zerstört, muss dieses aus dem Ausland importiert werden, weil die Nachfrage das Angebot bei weitem übersteigt.» Dass er unter dem Strich mit einer guten Ökobilanz produziert, davon ist er überzeugt. «Eine Obstanlage bindet ähnlich viel CO² wie ein Wald.» Überhaupt müsse man den Begriff «Nachhaltigkeit» ganzheitlich betrachten. «Wenn ich meinen Betrieb schlimmstenfalls aufgeben müsste, weil der Frost mir jedes Jahr grosse Ernteausfälle beschert, dann ist das über alles gesehen auch nicht nachhaltig.»
Aber natürlich sähe auch er bei der Frostbekämpfung Verbesserungspotenzial. «Das Verbrennen der Kerzen ist in der Tat nicht ideal. Und wenn ich die Frost Guards dereinst mit Biogas betreiben könnte, wäre das super.»
Pascal ist überzeugt, dass sich der Einsatz gelohnt hat, weil wir die Temperatur dank unseres Einsatzes um die entscheidenden paar Grad erhöhen konnten. Und abgesehen davon sei es wichtig gewesen, das «Dispositiv» wieder einmal zu testen und zu üben. Denn eines ist leider so sicher wie das Amen in der Kirche. Später Frost wird meinen Bruder auch in Zukunft auf Trab halten. Aber seine Frühlings-Nervosität wird von Jahr zu Jahr kleiner. Der Frost sorgt zwar für mehr Arbeit, aber er bringt meinen Bruder nicht mehr ins Schwitzen.
Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.