Sturm und Drang: Darum ist die Trotzphase so wichtig für dein Kind
Die Trotzphase meiner vierjährigen Tochter ist auf einem Höhepunkt. Und ich fühle mich oft machtlos. Das sei ganz normal und eine wichtige Lektion, sagt die Fachfrau. Sowohl fürs Kind als auch für die Eltern.
«Herrgottstärne!» Dieser Ausdruck geht mir immer leichter über die Lippen. Verantwortlich dafür ist unsere Tochter Zoe. Und das gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen, weil ich Flüche wie «Gopfertami» und «Scheisse» im Umgang mit einer bald Fünfjährigen nicht für angebracht halte. Zum anderen, weil Zoe derzeit trötzelt, widerspricht und nicht auf uns hört, dass es zum aus der Haut fahren ist. «Herrgottstärne!»
Ohne je den Deep Dive in die Welt der Elternratgeber gemacht zu haben, wusste ich schon von der Trotzphase, oder besser gesagt den Trotzphasen, bei Kindern. Zumindest in der Theorie. Wie intensiv eine solche Phase tatsächlich sein kann, führt mir erst die Praxis vor Augen. Mit ihrem Trotz bringt mich Zoe regelmässig auf die Palme, macht mich immer mal wieder zornig und gleichzeitig machtlos. Ich gestehe, in so einer Situation bin ich ihr gegenüber auch schon laut geworden … was mir dann auch sofort leid getan hat.
Ich verliere äusserst ungern die Kontrolle, vor allem im Umgang mit meiner Tochter. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass mir noch einige solche Situationen bevorstehen. Vielleicht kann ich mich ja etwas wappnen und suche deshalb Rat bei Pro Juventute.
Anja Meier, befinden wir uns mitten in dieser vielzitierten Trotzphase?
Anja Meier: Gut möglich. Die Trotzphase ist eine normale Entwicklung, die viele Kinder zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr durchlaufen. Trotzphasen wiederholen sich während der ganzen Kindheit in unterschiedlicher Länge und Stärke immer wieder. Diese Zeit wird von vielen Eltern gefürchtet. Selbstverständlich ist es nicht gerade angenehm, wenn sich Kinder eigensinnig und trotzig verhalten. Nichtsdestotrotz ist die Trotzphase auch ein bedeutender Entwicklungsschritt.
Warum eigentlich?
Kinder entdecken in diesem Alter ihr «Ich» und damit auch das Nein-Sagen. Mit dem Nein probieren sie aus, wie weit sie gehen können und lernen so sich und ihre Fähigkeiten kennen. Gleichzeitig prüfen sie aber auch die Eltern und den Widerstand, den diese ihnen entgegensetzen. Stösst das Kind an eigene oder äussere Grenzen, kann das Frust und Trotz auslösen.
Woran liegt das?
Kinder sind noch nicht in der Lage, ihre Wünsche und Bedürfnisse aufzuschieben. Das Kind glaubt, dass alle die Welt so sehen, wie es selbst. Ein Perspektivenwechsel gelingt ihm noch nicht. Es möchte also nicht die Eltern ärgern, sondern muss aushalten können, dass etwas nicht möglich ist. Sprich: In der Trotzphase lernt ein Kind, dass nicht nur es selbst, sondern auch die Gemeinschaft zählt.
Was sind die typischen Merkmale der Trotzphase?
Oft zeigen Kinder in dieser Phase einen starken Wunsch nach Autonomie: Sie möchten Dinge unbedingt selbst machen und eigene Entscheidungen treffen. Etwas nicht zu dürfen, nicht zu können oder nicht zu wissen, wie man mit gegensätzlichen Vorstellungen von Erwachsenen umgehen soll, kann Kinder verunsichern oder wütend machen. Diese negativen Gefühle erleben sie unglaublich intensiv. Oder sie neigen eben zu widersetzlichem Verhalten, um wieder die Kontrolle zu erlangen.
Wieso ist das so?
Die Sprachfähigkeiten von Kindern sind noch nicht vollständig entwickelt, deswegen fällt es ihnen manchmal schwer, ihre Bedürfnisse auszudrücken. Andere Merkmale sind starke Stimmungsschwankungen, die sich in Reaktionen wie Schreien oder Toben äussern können.
Wie unterstütze ich mein Kind in dieser Phase am besten?
Damit Kinder ihre Fähigkeiten und ihr Selbstvertrauen entwickeln können, benötigen sie viel Raum und Möglichkeiten zum Entdecken und Ausprobieren. Sie lernen durch ihr Tun und aus ihren Erfahrungen daraus. Gleichzeitig brauchen Kinder von ihren Eltern aber auch Leitlinien, die ihnen Orientierung geben. Sie müssen lernen, zwischen Möglichem und Unmöglichem zu unterscheiden, die Grenzen des Gegenübers zu respektieren und Enttäuschungen und Frustrationen zu ertragen. Kinder, die Grenzen spüren, fühlen sich wahrgenommen. Sie erleben, dass sich die Eltern mit ihnen auseinandersetzen und dass es den Eltern wichtig ist, was sie tun.
Wie unterstütze ich mich in dieser Phase meines Kindes selbst am besten?
Es ist nicht immer einfach, abzuwägen, wo man Kinder gewähren lassen kann und wo sie Einschränkungen erfahren müssen. Fantasie, Flexibilität, Einfühlungsvermögen und Verständnis sind gefragt. Wir empfehlen, den goldenen Mittelweg zu finden und dabei die Verbote auf das Wichtigste zu beschränken, wie etwa auf gefährliche Situationen. Wichtig ist, dass kurz und klar begründet wird und elterliche Ansprüche offen dargelegt werden. Und: Für ihre Orientierung brauchen Kinder Erwachsene, die nicht bloss klare, verständliche Leitplanken aufstellen, sondern diese auch anwenden und umsetzen.
Nach einem Tag voller Trotz, Widerstand und nicht auf mich hören wollen, bin ich gegenüber Zoe auch schon mal laut geworden. Gehört das dazu? Oder wie umschiffe ich dieses «aus der Haut fahren» am besten?
Es ist vollkommen normal, dass sich Eltern manchmal machtlos oder wütend fühlen, wenn ihre Kinder die gesetzten Grenzen nicht einhalten und sie immer wieder neu herausfordern. Unsicherheit, Angst, Stress oder Erschöpfung können diese Gefühle verstärken. Es gilt, abzuwarten, Ruhe und Distanz zu bewahren und den Trotzanfall nicht persönlich zu nehmen. Dies im Wissen darum, dass es nicht immer einfach ist.
«Es ist nur eine Phase...», sagt mir meine Frau zwischendurch, um dann gleich «...später wird's noch schlimmer» hinterher zu schieben. Hört das denn nie auf?!
Ab vier, fünf Jahren lernen Kinder, die Bedürfnisse anderer Menschen nachzuvollziehen und ihr Verhalten darauf abzustimmen. Auch das Elternsein ist oftmals ein Herausfinden und Ausprobieren. Wir empfehlen Eltern, sich in dieser (ersten) Sturm- und Drang-Zeit genügend Zeit zu lassen, mit den Kindern zu wachsen und sich in Ruhe und Gelassenheit, Mut und Neugier zu üben.
Anja Meier arbeitet als Verantwortliche Medien & Politik bei Pro Juventute und wohnt in der Region Luzern. Pro Juventute ist die grösste Schweizer Stiftung für Kinder- und Jugendförderung. Sie setzt sich nach eigenen Angaben dort ein, wo Kinder und Jugendliche den grössten Herausforderungen begegnen.
Titelfoto: Shutterstock / KieferPix58 Personen gefällt dieser Artikel
Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgang mit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen.