Highline WM in Laax: Athletik, Akrobatik und Nervenkitzel in luftigen Höhen
25/7/2024
Die Vorstellung, auf einem schwankenden Gurt in 20 Metern Höhe zu balancieren, löst bei den meisten Menschen Schwindel und Angst aus. Nicht so bei den 42 Athletinnen und Athleten, die bei der Slackline WM in Laax antraten. Sie zeigten sportliche Leistungen der Spitzenklasse. Und hatten offensichtlich Spass dabei.
Anfeuern, Jubel und dann Stille. Cecilia Stock, 29-jährige Finalistin an der Laax Highline World Championship, macht sich in 20 Metern Höhe bereit für ihre nächste Kombo. Sie wippt auf der locker (auf Englisch: slack) gespannten Leine auf und ab, um ausreichend Schwung und Höhe für die Tricks zu gewinnen.
Dann folgen Schulterstand, Drehungen um die Leine und Rotationen in schneller Folge. «Back Yoda, Nevermind to Feet, Underflip, Kamikaze», benennt der Kommentator die Tricks. «Wunderbar, es braucht krasse Fähigkeiten, das mit so viel Eleganz auszuführen», setzt er hinzu.
Nicht weniger dynamische Moves zeigt Konkurrentin und Titelverteidigerin Louise Lenoble aus Frankreich, die ein paar Meter daneben wie bei einem Salto um die Slackline rotiert und versucht, mit anspruchsvollen Abfolgen von Tricks zu punkten. Ein paar Mal rutscht sie ab und landet statt sauber auf den Füssen in der Sicherheitsleine. Wird sie ihren Weltmeisterinnentitel von 2022 trotz der Ausrutscher verteidigen können?
Nach spannenden Battles stehen die neuen Weltmeister fest
Im Freestyle-Battle-Format treten jeweils zwei Athletinnen oder Athleten gegeneinander an. Hat der oder die Erste eine Kombo ausgeführt, antwortet der oder die Zweite mit einer Abfolge von Tricks, die mit dem Thema spielt, es weiterführt oder ihm einen neuen Twist verleiht. So entsteht eine kreative Choreographie, bei der alle ihren eigenen Stil und ihre Stärken demonstrieren können.
Am Schluss kommt dann noch der «Best Trick», bei dem oft neue, noch nie in einem Wettkampf vorgeführte Abfolgen von Flips, Spins und Rotations präsentiert werden. Hier zeigt sich, wie kooperativ der Sport ist. Da die jeweilige Konkurrenz den Trick – genau wie das Publikum – zum ersten Mal sieht, aber die Chance hat, ihn für Bonuspunkte nachzumachen, erklären die Creators die Bewegungsfolgen und geben Tipps, wie der Trick gelingt. So entsteht statt einem Gegeneinander ein Miteinander, das alle weiterbringt.
«Es ist unglaublich, wie schnell sich der Sport entwickelt», sagt der Kommentator Ian Eisenberg, selbst erfahrener und erfolgreicher Highliner. «Vor ein paar Jahren haben wir uns gefragt, ob ein Trick überhaupt machbar ist, heute sehen wir ihn mit einer dreifachen Drehung.»
Bewertet werden die Kombinationen der Freestylerinnen und Freestyler nach einem Punktesystem, das Schwierigkeit, Ausführung und Style in Betracht zieht. Für Stürze in die Sicherheits-Line gibt es Punktabzug.
Spannend bleibt es bis zum letzten Moment nach drei mit Wettkämpfen gefüllten Tagen. Dann entscheidet die Jury: Cecilia Stock gewinnt den Final der Damen und ist so neue Weltmeisterin im Highline Freestyle. Jubel bricht aus. «Ceci, Ceci», rufen die Fans. Tags zuvor hatte die Deutsch-Italienerin bereits den Speed-Final gewonnen.
«Für mich ist ein absoluter Traum wahr geworden», sagt die frischgebackene zweifache Weltmeisterin. «Ich bin mega froh und dankbar.» Im Speed-Wettkampf gewann sie vor der Brasilianerin Erika Sedlacek und im Freestyle setzte sie sich gegen Titelverteidigerin Louise Lenoble aus Frankreich durch.
Bei den Herren gewannen der Deutsche Sascha Grill im Speed und der Spanier David Palomo – aka Sakalomo – in der Disziplin Freestyle den Weltmeistertitel. «Ich kann es noch gar nicht glauben, dass es wahr ist, ich habe so hart darauf hingearbeitet und bin jetzt einfach kaputt», sagt Sakalomo, der sich für die Siegerehrung in eine spanische Flagge gehüllt hat. Erst als er erfährt, dass die Ersten in den jeweiligen Disziplinen zum Slackline-Weltcup nach China eingeladen sind, sieht man ihm die Freude an.
Beste Schweizerin war im Speedline Mélanie Béguelin mit dem 6. Rang. Bester Schweizer im Freestyle ebenfalls mit einem 6. Platz wurde Samuel Volery. Der 40-jährige Mitinhaber des Unternehmens Slacktivity gilt als einer der Begründer der Disziplin Freestyle und hat schon vor Jahren Tricks auf der Highline gezeigt, die damals als gefährlich und fast unmöglich galten. Seither hat er viele Rekorde im Highlinen aufgestellt und die Grenzen des Möglichen im Slacklinen verschoben.
Spannende Wettkämpfe in zwei Disziplinen
Slacklinen ist ein Sport, der in den 70er-Jahren in der Kletter-Community in Kalifornien aufkam und in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Anklang auf der ganzen Welt fand. Neben Brasilien, Deutschland und Österreich ist die Schweiz ein Hotspot des Slacklinens. Der Verband «Swiss Slackline» schätzt, dass jeder 20ste Schweizer oder Schweizerin eine Slackline besitzt.
Dass nach 2022 die zweite Weltmeisterschaft im Slacklinen ebenfalls in der Schweiz stattfand, ist deshalb nicht überraschend. «Der Crap Sogn Gion bietet eine einmalige und spektakuläre Kulisse für einen solchen Event», sagt Nina Mappes, Präsidentin des Swiss-Slackline-Verbands. Zudem habe die Bergstation Galaaxy die nötige Infrastruktur. Dazu gehöre auch die Möglichkeit, mehrere Leinen in gleicher Länge nebeneinander zu spannen, damit ein fairer Wettkampf für die 26 Männer und 16 Frauen aus 14 Nationen möglich ist.
Anders als beim Seiltanzen ist das zwischen 2,5 und 5 Zentimeter breite Kunstfaserband nicht straff gespannt, sondern locker. Dadurch schwankt, schaukelt, federt und wippt es bei jeder Bewegung, was das Balancieren noch anspruchsvoller macht.
Neben dem spektakulären Freestylen wetteiferten die Slacklinerinnen und Slackliner auch in der Disziplin Speed um den Weltmeistertitel.
Das Speedlinen ist ein Meter-Sprint auf einem wackeligen Band – in Laax waren es 60 Meter in 15 Meter Höhe. Dabei sind höchste Konzentration und Kondition gefragt. Denn durch das K.-o.-Format mussten die frisch gekürten Weltmeister Sascha und Cecilia die Strecke rund zehnmal so schnell wie möglich zurücklegen, bis ihnen der Titel sicher war. «Ich war danach absolut kaputt», sagt Cecilia. Denn so leicht und locker das Laufen über die Line aussieht, ohne jahrelanges Training ist so eine Leistung nicht möglich.
Das weiss auch Sascha Grill, der Sieger im Speedline bei den Herren. Er fing mit 15 Jahren mit dem Slacklinen an. Erst als Hobby im Park, doch dann packte ihn die Begeisterung. «Es macht wahnsinnig viel Spass, sich zu fordern und immer besser zu werden und die eigene Bestzeit zu unterbieten», sagt der 22-Jährige. In den letzten Jahren ist er weit gekommen: «Als ich das erste Mal auf der Highline war, kostete es mich schon unheimlich viel Überwindung überhaupt aufzustehen», sagt er.
Dieses Gefühl der Angst und der Überwindung schwingt bei fast allen Gesprächen, die ich an der WM mit Slacklinerinnen und Slacklinern führe, mit. Denn in der Höhe auf einem schaukelnden, wackeligen Band zu laufen oder Saltos zu zeigen, widerspricht allen menschlichen Schutzinstinkten. Dennoch übt das Balancieren einen starken Reiz auf Menschen aus. Die kleine Übungs-Slackline, die für Zuschauende aufgestellt worden war, war nicht nur bei Kindern absolut beliebt.
Weltmeisterin ist Seiltänzerin von Beruf
Cecilia ist eine der wenigen, die ihre Leidenschaft für das Balancieren in luftigen Höhen mit ihren beruflichen Ambitionen vereinen kann. Sie absolvierte fünf Jahre lang ein duales Studium an der Zirkusschule und der Uni im Fachbereich Theater in Paris und Turin. In der Zirkusschule konzentrierte sie sich schwerpunktmässig aufs Seiltanzen.
Als sie an einem Highline-Workshop, bei dem die Slackline in grosser Höhe gespannt ist, teilnahm, war ihr klar: «Das ist meine neue Leidenschaft.» Cecilias Vater, Ulrich Stock, ist unter den Ersten, der ihr gratuliert. Auch wenn er, wie er sagt, sicher kein Vater ist, der die Tochter zu sportlichen Höchstleistungen pusht. Im Gegenteil, als sie ihm vor Jahren mitteilte, dass sie Zirkusartistin werden wollte, war er skeptisch. «Das war erst einmal ein grosses Fragezeichen», erinnert er sich. «Und jetzt ist sie zweifache Weltmeisterin», jubelt er. «Ich freu mich total».
Einer der schönsten Aspekte des Highlinens ist für Cecilia, dass sie bei diesem Sport so viel draussen an der frischen Luft ist und mit der Aussenwelt und den Elementen, vor allem dem Wind, interagiert. Ein anderer, dass sie auf der Slackline hochkonzentriert und ständig im Hier und Jetzt sein muss. Achtsamkeit pur. Auf dem schwingenden, wippenden Gurt fällt es ihr zunehmend leicht, die Balance zu finden. «Das gelingt auf der Slackline manchmal besser als im normalen Leben», findet sie.
Wenn dich die Neugierde gepackt hat und du das Slacklinen ausprobieren möchtest, findest du eine Auswahl an Slackline-Produkten in unserem Sortiment. Informationen zu Slackline-Events, Disziplinen und Trainingsmöglichkeiten gibt's beim Swiss Slackline Verband, beim Deutschen Slackline Verband oder bei anderen regionalen und nationalen Vereinen und Organisationen.
Titelbild: Siri Schubert
Siri Schubert
Senior Editor
Siri.Schubert@digitecgalaxus.chForschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.