Ich habe einen ganzen Abend lang keinen Alkohol getrunken und mir ist trotzdem schlecht geworden
Die «Liquid Evolution» hat meine Neugierde geweckt und meine Gläser mit alkoholfreien Getränken gefüllt: Wie ist so eine Partynacht mit Mocktails und ohne Rausch?
Ein nüchterner Abend durch Wiens pulsierendes Nachtleben – geht das? Eine vielleicht plakative, aber berechtigte Frage! Besonders in Europa, besonders in Österreich. Hier werden im Jahr durchschnittlich 11,7 Liter reiner Alkohol pro Kopf konsumiert, womit wir deutlich über dem europäischen Schnitt von 9 Litern liegen. Die gute Nachricht: Insgesamt ist der Pro-Kopf-Konsum von Alkohol rückläufig, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Gen Z konsumiert demnach 25 Prozent weniger Alkohol als ich in meiner Jugend in den (frühen) 2010er Jahren. Uff.
Liquid Evolution – Ist die Droge Alkohol passé?
Die neue Generation an Partywütigen wirbelt also mit deutlich weniger Alkohol im Blut durch die Stadt. «Liquid Evolution» heißt der Trend, der sich zu einer Detox-, Awareness- und Fitness-Kultur gesellt, die generell sehr hohe Selbstoptimierungs-Ansprüche in uns weckt. Anscheinend geht es aber nicht ganz ohne Rausch: Generation Z ersetzt den Alkohol durch andere Drogen wie Amphetamine oder Cannabis. Insbesondere der Konsum von Cannabis hat sich in den letzten 20 Jahren stark gesteigert: Wo in den 1990er Jahren nur rund 8 Prozent der Jugendlichen in Österreich Cannabis konsumiert haben, sind es heute zwischen 30 und 40 Prozent.
Ein Wochenende ohne Alkohol wäre mir als Jugendliche nicht eingefallen. Zu groß der Druck der Gruppe, zu stark der Wunsch nach Kontrollverlust und Spaß, zu wenig greifbar die Vorstellung, Spaß und Rausch voneinander zu entkoppeln. Ob das gesünder ist als zu kiffen, weiß ich nicht. Mittlerweile liebe ich Kontrolle über mich selbst und finde es überhaupt nicht mehr lustig, wenn ich sie verliere. Trotzdem musste ich 28 Jahre alt werden, um eine alkoholfreie Cocktail-Runde ins Leben zu rufen.
Mocktails: Die süße Lüge mit Schirmchen
Bei mir zuhause bereite ich also Cocktails vor, Mojitos und Martinis ganz ohne Alkohol. Das Ganze nennt sich dann Mocktail, wobei «to mock» im Englischen für «nachahmen» oder «vortäuschen» steht. Für die erfrischenden Getränke kaufe ich alkoholfreie Spirituosen und Liköre, Eiswürfel und Zitronen, Minze und Rohrzucker. Optik und Trinkgefühl müssen stimmen – schließlich will ich dem Alkohol nicht abgeneigten Gästen, nicht zu viel Veränderung zumuten. Zitrone, Minze und Rohrzucker im Glas zerdrücken, ein Schuss Minzsirup, Eiswürfel, Wasser, Schirmchen zur Deko – fertig.
Meine Party-Crowd sind Freund:innen mit Abenteuersinn, die mich bei meinem Wagnis in eine abstinente Partynacht begleiten. Sie kommen bereits nachmittags zu mir, entweder direkt aus dem Nachtdienst, von der Synagoge oder mit ihrem Kind an der Brust. Noch vor zehn Jahren haben wir den Absinth im Meter getrunken, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Heute nippen alle vorsichtig an ihren alkoholfreien Drinks und schwenken das Getränk mit Feingefühl, als wären sie gelernte Sommeliers. Ihre Reaktion? Ein gebildetes, anerkennendes Raunen geht durch die Runde. Soweit so okay, aber richtig Fahrt nimmt der Abend nicht auf.
Ein Rausch aus Placebo und Zucker
Um Bewegung in die verschlafene Runde zu bringen, kippen wir die alkoholfreien Mojitos runter und machen uns auf den Weg ins Stadtzentrum. In der ersten Bar angekommen, werfen wir einen Blick auf die Karte, die uns ein paar alkoholfreie Alternativen verspricht. Über den Tresen wandert bereits um 18 Uhr fast ausschließlich Hochprozentiges: von der Liquid Evolution keine Spur. Auf mein Nachfragen erklärt mir der Barkeeper, wir wären die ersten Gäste seit einer Woche, die sich für die alkoholfreien Cocktails entscheiden. Und auch die Ersten in meiner Runde geben nach und bestellen sich ein Bier. 1:0 für dich, Gen Z, touché.
Es ist 19 Uhr und ich schleppe meine dem Alkohol verfallenen Freund:innen ins Wiener Volkskundemuseum zu einer Drag-Performance. Ich liebe die Shows der Travestie- und Verkleidungskunst, denn sie haben etwas durch und durch Magisches an sich. Nichts bringt mehr frischen Wind in eine müde Runde als Glitzer, Federboas und Männer in High Heels. Ich habe nach wie vor keinen Tropfen Alkohol in mir und genieße die Klarheit meiner Gedanken. Allerdings bin ich von den zuckersüßen Mocktails auf Wasser umgestiegen, weil sich nach dem siebten Re-Fill ein Unwohlsein in mir ausbreitet, das ich auf die ungewohnt grosse Menge an Süßgetränken schiebe.
Alkohol oder Abstinenz, das ist hier die Frage
Um 21 Uhr erreicht meine Gruppe stimmungsmäßig ihren Höhepunkt. Tanzen will keiner, stattdessen setzen wir uns und philosophieren, mit Glitzer überzuckert, über die Bedeutung des Rausches in einer Konsumgesellschaft und rauchen dabei.
Was gibt uns der Alkohol normalerweise an einem Abend, was uns heute fehlt? Ist es Mut, Selbstbewusstsein oder Verblendung? Ein Gleichgewicht mit der Welt, das wir sonst nur mühsam herstellen können? Befreit der Alkohol eine aufregendere Version von uns selbst? 52 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher greifen gerne mal auf alkoholfreie Cocktails und Mischgetränke zurück – doch wie passt das mit meinen Freund:innen zusammen, die keine vier Stunden ohne Alkohol auf einer Party sein können? Ist das schon die Liquid Evolution? Und wenn ja, sind wir Millennials bald nur noch ein in Alkohol konserviertes Relikt, aussortiert von der natürlichen Selektion?
Wir mögen den Rausch, so viel steht fest. Alkohol trinken wir gewöhnlich in größeren Mengen, bis er die Gedanken vernebelt und die Zunge löst. Ein bis zwei Bier für den Genuss sind dieser Logik nach Perlen vor die Säue, wenn sie uns nicht unmittelbar in diesen Zustand katapultieren. Mein Eindruck? Es mag stimmen, dass die Österreicher:innen hin und wieder ganz gerne über alkoholfreie Alternativen nachdenken. In den Bars, den Clubs und an den Wiener Würstelständen aber feiern sie den Rausch – so scheint es zumindest.
Ein Fazit unter freiem Himmel
Es ist 23 Uhr, ich gehe zu Fuß nach Hause und sammle meine Gedanken. Die Party ist vorbei, aber die Nacht liegt vor mir. Es ist schwierig, hier ein kluges Fazit zu ziehen, ohne dabei Alkohol-verherrlichend oder im Grunde langweilig zu wirken. Die erste Feststellung liegt auf der Hand: Wer versucht, einen ganzen Abend lang nur Mocktails zu trinken, bezahlt viel Geld für etwas aufwendigere Säfte und wird am Ende des Abends mit Bauchschmerzen nach Hause gehen.
Und die zweite Feststellung? Liquid Evolution, ja bitte. Aber eigentlich braucht es die prickelnden Säfte im Cocktailglas nicht, um eine schöne, nüchterne Partynacht zu verbringen. Ich habe meinen Abend ohne Alkohol als wirklich angenehm in Erinnerung, bis mir der Zucker den Mund verklebte und mir das Sodbrennen bis in die Kniekehlen rutschte. Mein Fazit: Mocktails sind wie Familienfeste. Ein bisschen mühsam aber im Grunde ganz schön – bis einem alles nach drei Stunden zu viel wird.
Quellen:
- Horvat, I. et al. (2020): Bericht zur Drogensituation 2020. Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht & Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege & Konsumentenschutz. Lissabon, Wien. S. 54
- Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen (1999): Ausmaß und Entwicklung jugendlichen Drogenkonsums unter besonderer Berücksichtigung von Ecstasy. Österreichisches Institut für Jugendforschung, Wien. S. 6
- Bachmayer, S. et al. (2021): Handbuch Alkohol – Österreich. Band 1: Statistiken und Berechnungsgrundlagen 2021. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. Hrsg.: Gesundheit Österreich GmbH, Wien. S. 3
- Öffentliches Gesundheitsportal Österreich (2020): Handbuch Alkohol zeigt Entwicklungen auf. Unter: www.gesundheit.gv.at. (zuletzt aufgerufen am 20.07.2022).
- Statista (11.07.2022): Umfrage zu alkoholfreien Spirituosen in Österreich im Jahr 2022. Unter: www.statista.com (zuletzt aufgerufen am 20.07.2022).
Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.