«Inside Out 2»: Wenn noch mehr Gefühle verrückt spielen
12/6/2024
In kaum einer anderen Lebensphase spielen unsere Gefühle verrückter als in der Pubertät. Genau diesem emotionalen Chaos nimmt sich Pixars neuester Streich an. «Inside Out 2» tut das liebevoll, farbenfroh, mit viel Witz … und etwas gar routiniert.
Disclaimer: Die folgende Filmkritik enthält keine Spoiler. Ich verrate dir nicht mehr, als ohnehin schon bekannt und in den Trailern zu sehen ist.
Mit «Inside Out» stellte Pixar 2015 alles auf den Kopf, um es mit der deutschen Übersetzung des Filmtitels zu sagen. Die Geschichte der elfjährigen Riley, deren personifizierte Gefühle Joy (Freude), Anger (Wut), Sadness (Kummer), Disgust (Ekel) und Fear (Angst) wegen eines Umzugs verrückt spielen, sorgte rund um den Globus für Begeisterungsstürme. Der Film erzählt die Komplexität menschlicher Emotionen einerseits mit viel Humor und einer gewissen Leichtigkeit. Gleichzeitig ist er enorm tiefgründig und geht ans Herz, sodass kaum ein Auge trocken bleibt.
«Inside Out» ist grosses Kino für Jung und Alt. Ein Spagat, den längst nicht jeder vermeintliche Kinderfilm schafft. Nicht umsonst gilt er für viele als einer der besten Filme Pixars, wenn nicht gar der beste überhaupt. Mit dem Oscar für den besten animierten Spielfilm und einem Einspielergebnis von über 850 Millionen Dollar im Gepäck war es deshalb keine grosse Überraschung, als Disney und Pixar im September 2022 eine Fortsetzung des Blockbusters ankündigten. Nun, neun Jahre nach dem ersten Teil, startet also «Inside Out 2» im Kino. Vermag er die hohen Erwartungen zu erfüllen, die sein Vorgänger geweckt hat?
Neue Gefühle braucht das Kind
Riley ist inzwischen 13 Jahre alt. Im Eishockey und mit ihren Freundinnen könnte es kaum besser laufen. Joy, Sadness, Anger, Fear und Disgust haben in der Schaltzentrale in Rileys Kopf soweit alles im Griff. Doch es stehen Veränderungen an, äussere – aber vor allem innere, als mit Rileys Eintritt in die Pubertät neue Gefühle auf den Plan treten: Anxiety (Zweifel), Envy (Neid), Embarrassment (Peinlich) und Ennui (Langeweile). Als diese sogar das Kontrollpult in Rileys Gefühlszentrum übernehmen und die alten Emotionen aussortieren, scheint das Chaos unabwendbar.
Die Neuen rocken die Hütte
Rileys neue Emotionen in «Inside Out 2» sind eine Bereicherung. Anxiety, Embarrassment, Ennui und Envy decken einen grossen Teil der breitgefächerten Gefühlspalette während der Pubertät ab. «Bin ich genug?», «Gehöre ich dazu?» oder «Warum sind meine Alten so verbohrt?», solche Fragen haben wir uns während der ersten zaghaften Schritte auf dem Pfad des Erwachsenwerdens innerlich alle gestellt, wieder und wieder. Und wenn wir ganz ehrlich sind, hören wir diese und ähnliche Stimmen bis heute ab und zu, denn sie sind in der Pubertät gekommen, um zu bleiben.
Mein persönlicher Liebling von den neuen Gefühlen in «Inside Out 2» ist ganz klar Ennui mit ihrer herrlichen Leck-mich-am-Arsch-Attitüde. Mit ihrer ausgeprägt sarkastischen und ironischen Art hat sie mich in jeder ihrer Szenen zum Schmunzeln oder Lachen gebracht. Vielleicht, weil ich mich selbst so sehr in ihr erkenne? Leader of the new Pack ist aber zweifellos Anxiety, die in Rileys pubertärem Gefühlschaos die Fäden zieht, oder vielmehr spinnt. Etwa, wenn sie in Rileys Erinnerungen herumwühlt.
Ausser den Neuen bleibt alles beim Alten
«Inside Out 2» veranschaulicht die Irrungen und Wirrungen der Pubertät auf höchst unterhaltsame Art und Weise, ohne den gebotenen Tiefgang ausser Acht zu lassen. Aber angesichts des komplexen Themas bin ich nicht ganz sicher, ob und wie gut dieser Mix noch immer für Gross und (ganz) Klein funktioniert wie beim letzten Mal. Die Pubertät dürfte nämlich eher die Ü10-Zielgruppe ansprechen. Aber hey, da sind immer noch komische Figuren, die lustige Sachen machen, also Schwamm drüber. Die Altersfreigabe von 6 Jahren mit dem Vermerk «empfohlen ab 10 Jahren» kann ich darum unterschreiben.
Ob «Inside Out 2» bei all dem Lob ein weiteres Meisterwerk aus Pixars Schmiede ist? Jein. Also eigentlich ja – wäre da nicht der Vorgänger. Regisseur Kelsey Mann hat bislang vornehmlich als Storyboard-Artist bei Pixar gearbeitet. Die Hausaufgaben für sein Regie-Debüt hat er zweifellos gemacht und sich das Erfolgsrezept von «Inside Out»-, «Soul»- und «Up»-Regisseur Pete Docter genau abgeschaut. Aber vielleicht etwas zu gut. Abgesehen von den neuen Gefühlen und der etwas anderen Thematik vermisse ich im zweiten Teil die Kreativität, Innovation und neue Ideen, die den ersten Teil auszeichnen.
Teilweise wähnte ich mich tatsächlich in einer 1:1-Kopie von «Inside Out». More of the same halt. Das ist einerseits okay, weil «the same» ja zum Besten gehört, was Pixar je abgeliefert hat. Gleichzeitig ist es etwas schade, weil der Überraschungseffekt fehlt. Denn gerade für einen Animationsfilm müsste die Pubertät eine riesige Spielwiese für kreative Einfälle, irrwitzige Gags und noch mehr Tiefe sein. In dieser Lebensphase spielen noch viel mehr Gefühle verrückt als die in «Inside Out 2» eingeführten. Und die wiederum lassen den pubertierenden Menschen verrückte Dinge tun.
Das tut Riley in «Inside Out 2» ja auch. Sie gibt zum Beispiel vor, Dinge zu mögen, nur um anderen zu gefallen. Sie lässt ihre alten Freundinnen links liegen, weil sie sich von den neuen mehr verspricht. Sie hat plötzliche Gefühlsausbrüche und lässt sie an anderen aus, ohne dass sie selbst recht weiss, wie ihr geschieht. «Been there, done that», denke ich mir immer wieder schmunzelnd – und gleichzeitig wünschte ich mir, auch neue Facetten der Pubertät zu sehen, die nicht schon in der Masse von zahllosen anderen Coming-of-Age-Filmen abgehandelt worden sind.
Mehr Mut. Ja, das hätte der Film gebraucht. Mehr Mut zu mehr Tiefe, um das Gefühlschaos einer Pubertierenden noch nuancierter zu beschreiben, gerade mit der Möglichkeit, die verschiedenen Emotionen darzustellen. Mehr Mut zu düsterem, fast schon deprimierendem Drama, weil die Welt während der Pubertät jeden Tag gefühlt ein Dutzend Mal untergeht. Mindestens. Und mehr Mut zu noch mehr Frechsein, vielleicht sogar mit ein paar zweideutigen Witzen, die mehr zur pubertierenden Jugend passen und eine FSK-6-Freigabe gerade so noch rechtfertigen. Kelsey Mann thematisiert in «Inside Out 2» zwar die Pubertät, handelt sie aber bequem im Stile seines Vorgängers Pete Docter ab, bei dem sich die Gefühle in Rileys Kopf zuerst streiten und Chaos auslösen, ehe sie sich am Ende doch wieder zusammenraufen.
Kurz: Kelsey geht auf Nummer sicher. Aber bei der Pubertät ist nunmal gar nichts sicher, wie wir alle wissen.
Fazit
Solider Ritt auf der Gefühlsachterbahn mit angezogener Handbremse
«Inside Out 2» erweitert die Klaviatur der Emotionen und nimmt sich dem Gefühlschaos in der Pubertät an. Der Mix aus kunterbuntem Spass und emotionalem Tiefgang funktioniert ähnlich gut wie beim ersten Teil, ohne je aus dessen Schatten zu treten. Abgesehen von den neuen Figuren wurde kaum etwas Neues gewagt. Das macht «Inside Out 2» sehenswert für die ganze Familie. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
«Inside Out 2» läuft in der Deutschschweiz ab dem 12. Juni 2024 im Kino, in der Romandie und im Tessin ab dem 19. Juni 2024. Laufzeit: 96 Minuten. Freigegeben ab 6 Jahren, empfohlen ab 10 Jahren.
Pro
- Animationen auf dem gewohnt hohen Pixar-Niveau
- Struggles der Pubertät werden on point veranschaulicht
- Mix aus Humor und Tiefgang funktioniert erneut
- Neue Gefühle ergänzen das bestehende Ensemble wunderbar
Contra
- Die eine oder andere inhaltliche Länge schleicht sich ein
- Repetiert den ersten Teil, anstatt darauf aufzubauen
- Abgesehen von den neuen Gefühlen nicht viel Neues
Titelbild: Disney Pixar
Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgang mit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen.