Hintergrund
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von Luca Fontana
Kann ein Film ein Broadway-Meisterwerk übertreffen? «Wicked» beweist, dass es möglich ist. Mit atemberaubenden Bildern, grandiosen Darstellerinnen und Darstellern und einer Geschichte, die sowohl berührt als auch begeistert. Bereit für eine Reise nach Oz?
Eines vorweg: Die folgende Filmkritik enthält keine Spoiler. Ich verrate dir nicht mehr, als ohnehin schon bekannt und in den Trailern zu sehen ist.
Oh, was habe ich mich auf diese Verfilmung gefreut. Denn «Wicked» ist nicht nur das Musical, das «Frozen»-Darstellerin Idina Menzel weltberühmt gemacht hat. Es ist auch eines der erfolgreichsten Broadway-Musicals aller Zeiten. Gerade der Song «Defying Gravity» wurde 2003 zur inspirierenden Hymne jener, die sich nach Veränderung, Befreiung und dem Mut sehnen, für sich selbst einzustehen.
Und die Verfilmung? Nun, streng genommen wird nur die erste Hälfte des Musicals verfilmt. «Wicked: Part One» heisst es gleich anfangs. Und sie dauert mit 160 Minuten fast genauso lang wie das Originalstück selbst. Ob die Aufsplittung wirklich nötig war? Vermutlich … nicht. Sagt zumindest mein rationales Ich. Der Musical-Fan in mir hat sich nämlich keine einzige Sekunde gelangweilt.
Wird die Verfilmung dem grossartigen Musical, das ich einst selbst in London gesehen habe, also gerecht? Ja! Sie übertrifft es sogar – und trotzt damit zwar nicht der Schwerkraft, wie’s im ikonischen Song heisst, aber sehr wohl meinen hohen Erwartungen.
Sie ist tot. Besiegt. Die böse Hexe des Westens (Cynthia Erivo). Ihr Terrorregime, mit dem sie den Bewohnerinnen und Bewohnern von Oz das Fürchten gelehrt hat – es ist vorbei. Und so macht sich rasch die frohe Kunde breit, dass ein Mädchen, ein Blechmann, eine Vogelscheuche und ein Löwe dem puren Bösen die Stirn geboten haben. Das ganze Land feiert: «Niemand trauert um die Bösen», singt es unisono.
Nun … niemand dürfte nicht ganz stimmen. Zumindest Glinda (Ariana Grande), die gute Hexe des Südens, trauert. Schliesslich kannte sie Elphaba schon, als sie noch nicht die «wicked» Hexe des Westens genannt wurde. Mehr noch. Sie waren Freundinnen. Besuchten zusammen die Shiz University, eine renommierte Institution in Oz, an der junge Hexen und Zauberer ihre magischen Fähigkeiten erlernen und weiterentwickeln. Schon damals wurde Elphaba wegen ihrer grünen Hautfarbe und Andersartigkeit immer wieder geächtet und verletzt. Zumindest, bis sie beschloss, nicht mehr nach den Regeln der anderen zu spielen – oder eines gewissen Zauberers.
Glinda beschliesst, dass die Bewohnerinnen und Bewohner von Oz die Wahrheit erfahren müssen. Die ganze Wahrheit …
«Werden Menschen böse geboren – oder wird ihnen Bosheit aufgezwungen?», fragt Glinda gleich zu Beginn des Films. Ich kann mir schon denken, was dir gerade durch den Kopf geht: «Oh, bitte nicht noch eine Vorgeschichte mit ‹missverstandenen› Bösewicht!»
Na, kommt das etwa hin?
Ich könnt’s dir nicht verdenken. Disney schien 2014 mit «Maleficent» den Missverstandenen-Bösewicht-Trend erst losgetreten zu haben. Kurz darauf doppelte man mit einer Fortsetzung nach. Dann kam «Cruella». Und bald kommt «Mufasa», wo wir erfahren, warum der böse Scar eigentlich so böse wurde. Gähn. Lese ich Kommentare und Kritiken dazu, scheine nicht nur ich, sondern viele andere es ebenfalls satt zu haben, dass die Schurken unserer Kindheit, die wir so gern gefürchtet haben, plötzlich zu komplexen Figuren mit verständlichen Motiven werden.
Genau genommen war es aber auch gar nicht Disney, das diesen erzählerischen Kniff erfand, sondern Autor Gregory Maguire. Oder zumindest brachte er es mit seinem Roman «Wicked» bereits 1995 zurück in die Moderne. Aus der schlicht bösen Hexe des Westens aus «The Wizard of Oz» machte er da Elphaba Thropp. Acht Jahre später folgte das Musical mit der Musik und den Songtexten von Stephen Schwartz, einem Veteranen der Szene. Seitdem ist «Wicked» nicht mehr aus dem Broadway – und der modernen Popkultur – wegzudenken.
«Wicked» ist damit streng genommen nicht noch ein solcher Film, sondern die Verfilmung von Patient Null – oder eines frühen Vorreiters, dessen Tiefgründigkeit bis heute fast unübertroffen bleibt.
Denn ja, «Wicked» erzählt zwar, wie Elphaba zur Hexe des Westens und damit zur Antagonistin aus L. Frank Baums «The Wizard of Oz» wurde. Doch «Wicked» ist auch ein Hilferuf. Und eine Warnung: vor Regimen und politischen Führungen, die mit Populismus und erfundenen Feindbildern unsere Vernunft, unsere Empathie und unser selbständiges Denken manipulieren, um Wut und Angst zu schüren.
Das war schon 1995 aktuell. Ist es heute mehr denn je.
Elphaba, grandios von Cynthia Erivo gespielt und gesungen, übernimmt dabei nicht nur die Rolle der Unterdrückten, sondern des Underdogs. Der Ausgegrenzten und Geschmähten, an die niemand glaubt, die trotzdem kämpft und … nun, das wirst du schon selber sehen müssen. Und wie gut Underdog-Geschichten funktionieren, wissen wir nicht erst seit «Rocky».
Cynthia Erivo versteht es dabei mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit, nicht nur die nach Aussen starke Kämpferin zu spielen, die sich weder durch gesellschaftliche Normen noch engstirnigen Vorurteilen unterdrücken lässt. Im Gegenteil: Immer wieder blitzt ihre Verletzlichkeit – eine fast unaushaltbare Sehnsucht nach Akzeptanz – durch die Risse ihrer vermeintlich unverwüstlichen Rüstung durch. Ich als Zuschauer kann gar nicht anders, als mit der Hexe zu sympathisieren.
Genau das macht «Wicked» so einzigartig und tiefgründig. Disneys «Maleficent» und «Cruella» kommen da nie und nimmer heran. Nicht nur, weil Elphaba keine Fee ist, die bloss durch einen Fluch in die Bosheit getrieben wird, oder eine Modedesignerin, die «nur» von einer traumatischen Kindheit gezeichnet ist. Sie ist eine junge Frau, isoliert und diffamiert, in einer Welt, die bequeme, aber unfaire Regeln macht. Dadurch werden ihre Wut und ihr Schmerz so verständlich.
So nah.
Cynthia Erivo gegenüber steht die eigentliche Überraschung des Films: Ariana Grande. Nicht, weil sie gut singt – das weiss sogar ich. Und ich kannte bisher nur ihren Namen und ein paar Songs. Beinahe fürchtete ich, man habe für die Rolle der makellosen Glinda einfach etwas Star-Power fürs Marketing casten wollen, nicht zwingend schauspielerisches Talent.
Aber: Ariana Grande ist witzig. Wirklich witzig – auf eine ganz authentische und natürliche Art. Ihr komödiantisches Talent, ihr Gespür für Timing und – ja – auch ihre Selbstironie sind beeindruckend. Gleichzeitig meistert sie eine Gratwanderung: überheblich, selbstverliebt und gemein einerseits, witzig, sympathisch und mitfühlend andererseits. Keine leichte Aufgabe, die nicht jede Schauspielerin so mir nichts, dir nichts bewältigen kann. Ariana Grande gelingt das jedoch perfekt. Hut ab.
Tatsächlich lebt «Wicked» schon seit jeher von der Freundschaft und Rivalität zwischen Elphaba und Glinda. Von den Höhen und Tiefen ihrer Beziehung, ihrer gegenseitigen Unterstützung und ihren Konflikten, die aus den zunächst unterschiedlichen Werten und Zielen entstehen. Doch so sehr sie sich anfangs nicht ausstehen können – da ist auch diese seltsame Anziehungskraft zwischen den beiden. Nicht im romantischen Sinne. Aber genauso faszinierend.
Als Fan des Originals kann ich daher bestätigen: Das haben Cynthia Erivo und Ariana Grande wirklich gut von der Showbühne auf die Leinwand transportiert.
Und wenn wir schon beim Stichwort «Show» sind, dann lass mich auch das in aller Deutlichkeit nochmals sagen: «Wicked» ist ein Musical durch und durch. Es wird fast pausenlos getanzt und gesungen. Wer nichts damit anfangen kann, wenn Dutzende von Schülerinnen und Schülern plötzlich synchron und mit einstudierter Choreografie durch Klassenzimmer, Schulhöfe und Mensas steppen, wird an «Wicked» keinen Gefallen finden. Und wer denkt, während der vielen Songs mal eben den Kopf auf Durchzug schalten zu können, verpasst wichtige Exposition oder sogar Handlung.
Für alle anderen ist «Wicked» das reinste Fest. Auch, weil deutlich weniger am Computer gewerkelt wurde, als die vielen CGI-lastigen Trailer vermuten liessen. Tatsächlich kam ich kaum aus dem Staunen heraus, wie viele der riesigen Sets aufwändig gebaut wurden. Anscheinend wurde eigens für den Film ein tonnenschwerer Zug gefertigt – tja, so viel Hingabe ans Handwerk steckt in diesem Werk.
Was soll ich sagen? «Wicked» ist alles, was Musical-Kino sein sollte – und mehr.
«Wicked» ist weit mehr als nur ein Film über die «missverstandene Bösewichtin». Es ist eine Erzählung über Identität, Freundschaft und den Mut, sich gegen Ungerechtigkeit zu stellen.
Regisseur Jon M. Chu schöpft aus seinem Können, das er mit «Step Up 3» und «In the Heights» verfeinert hat, und überträgt die Magie des Broadway-Musicals meisterhaft auf die grosse Leinwand. Dabei entdeckt er neue Facetten der bekannten Geschichte und verleiht ihr frischen Glanz.
Cynthia Erivo und Ariana Grande beeindrucken dabei mit grandiosen Performances und lassen die komplexe Dynamik zwischen Elphaba und Glinda lebendig werden. Mit atemberaubenden Bildern, mitreissenden Songs und einer Botschaft, die auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung nichts an Relevanz verloren hat, entfaltet «Wicked» seine ganze Magie. Es zeigt, dass Musical-Kino weit mehr sein kann als blosse Unterhaltung – es kann berühren, inspirieren und lange nach dem Abspann im Gedächtnis nachklingen.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»