Meine Reise zum Norden – und schliesslich auch seinen Lichtern
6/10/2023
Den Wunsch, die Aurora borealis zu sehen und zu fotografieren, hatte ich schon lange. Und immer vor mir hergeschoben. Nun habe ich ihn endlich in die Tat umgesetzt.
Das Ufer des Kivijärvi, eines finnischen Sees nahe der Grenze zu Norwegen, besteht aus lauter grossen rundgeschliffenen Steinen. Sie geben auf Fotos einen tollen Vordergrund ab, aber man kann nicht gut darauf stehen. Das gilt für mich wie für mein Stativ. Prompt rutsche ich ab und stosse dagegen. Mit einem hässlichen Platschen fällt meine Sony A7 III ins schwarze Wasser.
Natürlich ist das ärgerlich, zumal eine Kamera nie allein untergeht, sondern prinzipiell mit Objektiv. Aber mein langgehegter Traum, die Nordlichter zu sehen und zu fotografieren, ist an diesem Abend endlich wahrgeworden, daher hält sich mein Unmut in Grenzen. Wie ich aber die Sony am Stativ aus dem See ziehe und sie dabei tropft wie Spaghetti im Sieb, fällt mir ein, dass ja auch die SD-Karte im Wasser lag. Meine Fotos!
Mein Reiseführer Peter, der seine Sachen ein paar Meter weiter hinten aufgestellt hat, beruhigt mich: Die Daten seien sicher, SD-Karten seien wasserdicht. Erleichtert packe ich mein Material zusammen und gehe zurück zum Auto, wo Susanne, die andere Teilnehmerin unserer Expedition, ebenso begeistert fotografiert. Sie wollte nicht auf den Steinen am nächtlichen Ufer herumturnen – eine vernünftige Einschätzung.
Und zack, bist du 49
Schon seit Jahren wollte ich die Nordlichter sehen. Aber wie das eben ist mit solchen Wünschen: Du schiebst sie vor dir her, denkst regelmässig: Das will ich unbedingt mal erleben, und zack, bist du 49 und hast es immer noch nicht gemacht. Darum kontaktierte ich letzten Winter endlich ein Reisebüro.
Das Angebot überzeugte mich nicht. Ich wäre nach Tromsø geflogen und hätte dort «individuelle Ausflüge» machen können, «zum Beispiel eine Hundeschlittenfahrt». Der zweite Teil der Reise hätte mich in ein Ferienresort in einem Fjord geführt, ohne weitere Aktivitäten. Mir wurde klar, dass ich jemanden brauche, der sich auskennt.
Ich fand ihn ein bisschen später hier bei Digitec Galaxus. In einer Rezension für das Sony-14mm-Objektiv las ich, man könne damit prima die Nordlichter fotografieren. Wo er dies gemacht hätte, wollte ich vom Verfasser wissen. Er antwortete mit einem Link zu seinen Nordlicht-Fotoreisen. So lernte ich Peter Schurte kennen.
Ja, schon, sagte Peter
Peter ist ein gutgelaunter Aargauer Anfang fünfzig, der hauptberuflich Videos für Unternehmen dreht. Ich fragte ihn, mit was für Leuten er seine Fotoreisen jeweils unternehme. Ich hatte keine Lust auf Stammtischgepolter mit zuverlässig frauen- und fremdenfeindlichen Witzchen, was ich Peter auch so schrieb. Er antwortete, er nehme jeweils nur zwei bis drei Gäste mit, die sich vorher kennenlernten, und er hätte noch nie Probleme mit Rassismus oder dergleichen gehabt. Ausserdem wolle auch er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erst kennenlernen. Das fand ich schon mal gut.
Wir trafen uns im Frühjahr am Flughafen Kloten, als Peter von einer Nordlichtreise heimkehrte. Breit grinsend holte er einen Stapel Papiere aus seinem gigantischen Fotorucksack. Darauf waren lauter Google-Maps-Screenshots, Orts- und Routenbeschreibungen – und phantastische Polarlichtfotos. «Boah, das sieht ja toll aus!» rief ich. Ja, schon, sagte Peter, aber man müsse wissen: Das norwegische Wetter sei launisch und wild. Um die Aurora borealis fotografieren zu können, müsse der Himmel wolkenlos sein und zudem die Nordlichtaktivität hoch. Er kenne viele gute Spots, und wenn das Wetter irgendwo nicht gut sei, könne man spontan in eine andere Gegend fahren, aber versprechen könne er nichts. Darum mache er jeweils auch tagsüber Ausflüge, denn auch Wolken seien fotografisch eine tolle Sache. Und Norwegen sowieso.
So einfach würde sich mein Wunsch also wohl nicht erfüllen. Trotzdem sagte ich sofort zu. Ich mochte Peter, und wenn es mit den Nordlichtern nicht klappte, würde es trotzdem eine tolle Reise werden.
Wisst ihr, was geil wäre?
Peter fand eine zweite Teilnehmerin: Susanne, eine zutiefst entspannte Baselbieterin, die schon die halbe Welt bereist hat. Wir sollten einander bei ihm zuhause in Zofingen kennenlernen. Ausserdem wollte er mit uns ein Sternenfoto machen, um zu sehen, ob wir unsere Ausrüstung im Griff haben. Das Kennenlernen war einfach, Sternenfotos in der Schweiz sind es nicht. Die Lichtverschmutzung ist mittlerweile derart extrem, dass es praktisch keine Orte mehr gibt, an denen man den Nachthimmel störungsfrei sehen kann. Peter fuhr mit uns auf eine dunkle Anhöhe im nahen Kanton Luzern. Die Milchstrasse war ganz zart zu erkennen, aber ringsherum glimmten diverse schmutziggelbe Lichtglocken.
Wisst ihr, was geil wäre? Ein paar autofreie Sonntage im Jahr und ein paar lichtfreie Nächte. Und generell die Einsicht von Firmen, dass sich zwischen 23 und 7 Uhr kein Schwein für ihre Schaufenster und Logos interessiert.
Ständig neue dicke Wolken
Am 5. September ging es los. Mein Koffer war voll mit Winterkleidung, was angesichts der beängstigend hohen Temperaturen hier ziemlich absurd war. Nach vier Stunden stiegen wir in Tromsø aus. Es war windig und bitterkalt und regnete. Und so sollte es vorerst auch bleiben.
Wir fuhren per Mietwagen auf die Insel Senja und bezogen ein hübsches skandinavisches Haus. Als es dunkel wurde, regnete es zwar gerade nicht, war aber komplett bewölkt. Peter checkte alle Wetter-, Wind- und Nordlicht-Apps und meinte, es sehe nicht gut aus, aber: Das Wetter finde draussen statt. Ein Satz, den er noch viele Male sagen würde. Ich verstand ihn erst nicht. Peter erklärte: Was die Apps meldeten, sei das eine, aber es könne sich jederzeit ändern, vor allem hier, das sei das andere. Und darum lohne es sich trotzdem immer, es zu probieren. Wir probierten es und fuhren zu einer stockdunklen kleinen Bucht. Als wir aussteigen, prasselte ein kolossaler Platzregen los. Wir fuhren zurück.
Wenn du nach Norwegen reist, um die Nordlichter zu sehen, und sie nicht sehen kannst, weil ständig neue dicke Wolken von der Küste her ins Land kriechen und alles nass machen, ist das eine regelrechte Charakterprüfung. Du musst so cool bleiben wie der Wind dort. Du musst dir immer wieder sagen: Ja, Nordlicht wäre schön, der Rest ist es aber auch, ausserdem bist du erst drei Tage hier, es liegen noch acht vor dir.
Am vierten Abend erwischten wir, obwohl die Apps keinerlei Raum für Hoffnung liessen, Peter aber daran erinnerte, dass das Wetter draussen stattfinde, einen kleinen wolkenlosen Fleck und ein bisschen Nordlicht darin. Die Freude war riesig. Und kurz. Die Wolken schlossen sich nach wenigen Minuten wieder. Aber hey! Wir haben es gesehen! Wir haben das Nordlicht gesehen!
Deine Kamera sieht mehr als du
Eine kurzer Exkurs zur Formulierung «Nordlicht sehen»: Während das menschliche Auge einem Kamerasensor in der Disziplin Hell-dunkel-Unterscheidung deutlich überlegen ist, verhält es sich bei dem Erkennen von Farben bei Dunkelheit genau umgekehrt. Ich verstehe die Bedeutung des Sprichworts «Nachts sind alle Katzen grau» bis heute nicht, aber in fotografischer Hinsicht ist es völlig zutreffend.
Wenn du in den Himmel blickst, sieht das Nordlicht daher nicht ganz so spektakulär aus wie auf Fotos. Die plötzlich erscheinenden, lustig tanzenden Lichtbänder sind trotzdem absolut bezaubernd, auch wenn du nur zart erkennst, dass sie grün sind und manchmal violett. Es tut dem faszinierenden Schauspiel keinerlei Abbruch, das sich in 100 bis 200 Kilometern Höhe abspielt. Richtig eindrücklich sieht es aber erst auf den Fotos bzw. dem Kameradisplay aus. Darum starrt man auch die ganze Zeit komplett gebannt darauf und vergisst, die himmlische Darbietung direkt zu beobachten – was trotz den blassen Farben letztlich schöner ist.
Schliesslich ist alles perfekt
Am achten Abend sahen wir endlich ein bisschen länger Nordlicht. Die Bewölkung war aufgerissen, aber immer noch hartnäckig. Die Fotos wurden toll, aber längst nicht so wie in Peters Tourkatalog. Meine Geduld war mittlerweile erheblich strapaziert, was mich ironischerweise zusehends entspannte. Ich hatte das Nordlicht gesehen und fotografiert – nicht so, wie ich wollte, aber wann im Leben kommt schon etwas genau so heraus, wie man es will?
Die Antwort lautet: am neunten Tag. Es sieht so aus, als würde das Gebiet jenseits der Grenze zu Finnland an diesem Tag und Abend wolkenlos sein. Wir packen alles ein und fahren los, es dauert fast drei Stunden, bis wir da sind. Die Dämmerung setzt ein, wir suchen einen guten Platz. Hinter- und Vordergrund sollen möglichst viel hergeben. Und ein Gewässer wäre gut, zwecks Spiegelung. Wir finden einen See, aber es passt irgendwie nicht, die Szene ist zu eng. Wir fahren weiter und finden einen anderen See, aber keinen Zugang. Es wird immer dunkler. «Da! Da!», ruft Susanne, sie hat eine kleine Lichtung neben der Strasse entdeckt. Peter wendet. Wir eilen zum Ufer hinunter. Peter und ich sind entzückt. Es ist perfekt. Susanne bleibt lieber beim Auto und verschont ihre Ausrüstung vor der Gefahr, die meiner droht, weil ich ja unbedingt ganz nach vorn klettern muss.
Aber es hat sich gelohnt. Und als ich zuhause meinen Versicherungsberater frage, ob meine Hausratskasko auch ertrunkene Kameras umfasse, meint er: «Ja, auch dieser Fall ist versichert.» Puh!
Wenig Autos, viel Natur, krass flexen
Ich kann dir Norwegen sehr empfehlen (und natürlich Peter als Reiseführer). Es ist wunderschön und herrlich menschenleer. Du siehst sehr wenige Autos und enorm viel Natur. Und vielleicht sogar das Nordlicht. Auch wenn du dafür möglicherweise kurz rüber nach Finnland musst. Dafür hast du nachher Fotos, mit denen du in jeder Runde – wie sagt man das heute? – krass flexen kannst.
Thomas Meyer
freier Autor
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.