Hintergrund
«Falcon and the Winter Soldier», Episode 5: «Wahrheit»
von Luca Fontana
Karli Morgenthau, Anführerin der Flag Smasher, steht vor ihrem finalen Schlag. Zeit für Sam, den Schild umzuschwingen– im packenden Staffelfinale.
Eines vorweg: Das ist eine Folgenanalyse. Mit Spoilern! Schau dir also zuerst die sechste Episode von «Falcon and the Winter Soldier» an, bevor du weiterliest.
Schluss. Ende. Aus. Das Staffelfinale von «The Falcon and the Winter Soldier» ist da. Was soll ich sagen? Es ist ein atemberaubendes Furioso, das alle Handlungsstränge zusammenführt.
Da ist Sam, der Falcon, der endlich den Schild akzeptiert. Bucky, der Winter Soldier, der sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellt. Karli, die Flag Smasherin, die um ihren Platz in der Welt kämpft. Und John Walker, der Irre, ausgestattet mit der Macht der Götter.
Der grosse Knall steht noch bevor. Wortwörtlich. Denn Karli plant einen finalen Schlag auf die Führung der GRC – derjenigen Organisation, die die Ressourcen und Neuorganisation der Welt nach dem Blip verantwortet.
Auf geht’s, ein letztes Mal.
«Es ist Zeit», sagt Karli Morgenthau. Ihr Anschlag. Er wird grösser als alles, was sie je zuvor geplant hat. Extremer.
Schonungsloser.
Die einzige Sprache, die «die» verstehen, so Karli, die Extremistin. Das ist es schliesslich, was die Welt aus ihr gemacht hat: Von der Zurückgebliebenen zur Vertriebenen, von der Vertriebenen zur Widerstandskämpferin, von der Widerstandskämpferin zur Verbrecherin – und von der Verbrecherin zur Terroristin.
Hoffnungslos radikalisiert, würde Baron Zemo sagen. Das wiederkehrende Thema von «The Falcon and the Winter Soldier». Gewalt, die mit Gewalt vergolten wird und damit ein Strudel des Extremismus auslöst, aus dem es kein Entkommen gibt.
Mittendrin in diesem Strudel: Bucky, Sharon – und Sam, neuer Captain America.
Vergleichen wir das mit den Comics. Auch dort stammen die Flügel, die Sam benutzt, aus Wakanda. Captain Americas Schild erbte er aber unter anderen Umständen.
Januar, 1968. Am chinesischen Neujahrstag ist es Ran Shen, ein ehemaliger S.H.I.E.L.D.-Agent, der auf dem Mount Everest ungewollt ein uraltes, mächtiges Wesen erweckt: ein Makluan namens Nian. Das Wesen, eine Art humanoider Drache, durchbohrt Shens Brust mit seiner Klaue – und verleiht ihm damit diabolische Kräfte, die auch Shens Geist verderben.
Ran Shen verschwindet. Jahrzehnte lang. Als er wieder auftaucht, will er einen dritten Weltkrieg anzetteln. Ihm entgegen stellen sich Steve Rogers und Sam Wilson. In einem epischen Kampf gelingt es Steve, Shen zu besiegen. Allerdings nicht bevor Shen dank seinen andersartigen Kräften das Supersoldaten-Serum aus Steves Körper entziehen konnte.
Die Folge: Steve verliert all seine Superkräfte und altert zu jenem uralten Mann, den er heute wäre, hätte er nie das Serum bekommen und 70 Jahre lang im Eis geschlafen. In Zuge dessen gibt er seinen Schild an Sam weiter, fortan der neue Captain America.
Jep, jetzt weisst du, woher die Inspiration für diese Szene kam:
Sams Zeit als Captain America ist alles andere als einfach. Als Afroamerikaner, der ein neues, moderneres Amerika repräsentiert, ist er überzeugt, auch schwierige, aber wichtige soziale Themen ansprechen zu müssen. Etwa Einwanderung. Oder Rassismus.
Captain America, der nicht bloss Superheld, sondern auch zum Politiker wird?
Das gefällt nicht allen. Besonders nicht in einem gespaltenen Land, wo die Anhänger einerseits leidenschaftlicher, aber die Gegner dafür umso extremistischer sind. Zu Hunderten gehen sie auf die Strasse, halten Schilder mit der Aufschrift «Not My Captain America» hoch und protestieren gegen alles, was Sam macht und sagt.
Was dann folgt, ist ein grosses Wirrwarr an alternativen Zeitlinien, alternativen Versionen von Steve Rogers und überhaupt ziemlich vielen alternativen Realitäten. Falls du das in den Comics selber nachlesen willst: Zieh dir das «Secret Empire»-Event rein. Im Wesentlichen realisieren Baron Zemo und der Red Skull ihren Traum von der Herrschaft über ein faschistisches Amerika, nachdem das Volk dank giftigen Chemikalien im Wasser gefügig gemacht wird.
Aber der eigentliche Strippenzieher hinter all dem: Steve Rogers.
Dass Rogers auf einmal Böse ist, ist Schuld des Red Skulls. Der hat nämlich Kobik, ein empfindungsfähiger Cosmic Cube in Form eines kleinen Mädchens, überzeugt, Rogers seine Kräfte zurückzugeben, seinen Geist aber mit dem eines Steve Rogers aus einer alternativen Realität zu ersetzen, in der Steve böse und faschistisch ist.
Während dieser Zeit geht’s drunter und drüber mit dem alles andere als beliebten Sam, der trotz Steve Rogers Rückkehr Captain America bleibt. Mal bildet er neue Avengers aus. Mal legt er desillusioniert den Schild nieder. Dann nimmt er ihn wieder auf. Mal kämpft er gar gegen John Walker, den U.S. Agent, der Sam überzeugen will, den Schild an Steve Rogers zurückzugeben. Walker ahnt nichts vom alternativen Steve, aber dass seine neuen, extremistischen Ansichten Walker besser in den Kram passen, ist klar.
Natürlich endet alles mit einem Happy End. Schlussendlich gelingt es Sam mit der Hilfe Buckys, Steves echten Geist zurückzuholen und den alternativen, faschistischen Steve zu besiegen. Erst jetzt legt Sam den Schild endgültig nieder, und gibt ihn dem einzig wahren Captain America zurück – Steve Rogers.
Zurück zur Serie. Karli macht ernst. Sollte ihr Plan schief gehen, wäre sie gar dazu bereit, die Führungsriege der GRC – ihre Geiseln – zu töten. Nur so könne die Abstimmung über die kommende, unfaire Weltordnung verhindert werden. Der stählerne Truck, in dem die Geiseln transportiert werden, wird angezündet.
Extremismus pur.
Dann: John Walker. Es kommt zum Kampf mit Karli. Ich erwische mich dabei, mich auf die Seite Walkers zu schlagen. Walker, der den Tod seines Freundes rächen will. Nicht das edelste Motiv. Aber hey, besser, als Menschen bei lebendigem Leibe in einer Hölle aus Feuer und Stahl verbrennen zu lassen.
Während Sam und Bucky ihr Ding machen, nimmt’s Walker mit einem halben Dutzend Flag Smashern samt Karli auf. Dann kommt’s zum entscheidenden Moment: Er könnte sich endlich Karli schnappen – Rache für Lemar üben – oder die Geiseln im Truck retten.
Walker entscheidet sich, das Richtige zu tun.
Grossartiger Moment. Der Super-Patriot aus den Comics weicht langsam aber sicher dem, was Comic-Leserinnen und -Leser als den U.S. Agent kennen. Einen John Walker mit radikalen Ideologien, dessen Methoden fragwürdig und meist moralisch grenzwertig sind, der definitiv nicht frei von Schwächen ist – der aber das Herz am rechten Fleck hat.
Ein Anti-Held.
Dann mischt sich Batroc ein. Sharon Carter beobachtet aus der Ferne. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich ihr trauen kann. War ich mir noch nie in dieser Serie.
Wie sich herausstellt, war mein Misstrauen berechtigt. Tatsächlich ist Sharon Carter, einstige Agent 13 im Dienste S.H.I.E.L.D.s, die nach den Ereignissen von «Captain America: Civil War» exkommuniziert und seitdem nie wieder rehabilitiert wurde, der Power Broker selbst.
Damit weicht die Identität des Brokers vom Comic ab. Zur Erinnerung: Dort ist der Power Broker Curtiss Jackson, der Chef der Power Broker Inc., die mit Hilfe des sinistren Doctor Karlin Malus aus normalen Menschen solche mit übermenschlichen Kräften macht. Unter anderem John Walker.
Curtiss’ übergeordnetes Ziel: Profit. Die Supermenschen nehmen an Wrestling-Turnieren teil, gehen auf PR-Tour, retten die Welt – alles, was Supermenschen halt so machen – und geben 70 Prozent der Einnahmen dem Power Broker ab.
Das Prozedere des Power Brokers ist aber nicht ungefährlich. Die Hälfte der Probanden stirbt. Die andere wird stark deformiert. Nur wenige überstehen den Prozess schadlos. Und die, die’s tun, stehen meist unter einer stark abhängig machenden Droge, die laut Malus der Stabilisierung der Superkräfte dient – in Wahrheit macht sie die künstlichen Superhelden aber dem Power Broker gefügig.
Sharons Motive als Serien-Power-Broker sind ähnlich. Sie fühlt sich von der Welt verarscht. Die meisten exkommunizierten Avengers sind nach «Avengers: Endgame» rehabilitiert worden. Selbst Bucky, der Winter Soldier.
Nicht Sharon.
Als Power Broker will sie sich dennoch nicht rächen oder um ihren Platz kämpfen. Nicht wie Karli. Ähnlich wie Curtiss Jackson hat sie stattdessen ein illegales Geschäftsimperium aufgebaut und damit ihre eigene Form von Gerechtigkeit erschaffen.
Im Untergrund. Es kommt zum letzten Kampf Karlis. Ihr gegenüber stellt sich Sam. Sam weigert sich aber, gegen Karli zu kämpfen. Weisst du noch: Gewalt führt zu mehr Gewalt? Sam will diesen Teufelskreis durchbrechen – und scheitert. Karli wird nämlich erschossen. Von Sharon.
«Es tut mir leid», Karlis letzte Worte.
Ehrlich: Das «Sorry» fällt flach aus. Dass Karli ausgerechnet jetzt Reue zeigt, macht für mich überhaupt keinen Sinn. Szenen zuvor, im Mexican Stand-Off mit Sharon und Batroc – der Arme wird auch noch von Sharon getötet –, ist sie von ihrer Sache nie überzeugter gewesen. Ein Kampf später nicht mehr? Nur, weil Sam sich nicht gewehrt hat?
Blödsinn.
Und das ist noch nicht alles: Walker und Bucky spüren während Sams Kampf die restlichen Flag Smashers auf – dank der Flag-Smasher-App.
Ernsthaft?
Die App, die schon von Anfang an da war… über die kann man die Flag Smashers aufspüren? So einfach geht das? Die ganze Serie hindurch suchen sie wie verrückt nach den Flag Smashern und erst jetzt kommen sie auf die Idee, die App zu benutzen? Bestimmt haben sie die auch noch aus dem App Store.
Kommentarspalte, hilf mir, das zu verstehen!
Nun denn. Jetzt wird’s politisch.
Sam wird politisch. Genau wie in den Comics. Eine Moral muss her. Schliesslich ist es die letzte Episode. Und Sams Diskurs über die Macht der Politik ist durchaus interessant. Nämlich, dass sie dieselbe Macht hätte wie durchgedrehte Götter, die die Hälfte allen Lebens auslöschen können, oder wie fehlgeleitete Teenager, die eine Bewegung begründen können, die’s mit den mächtigsten Regierungen der Welt aufnimmt.
Und dass die Politik sich dessen besser bewusst werden muss.
Denn Gewalt führt zu noch mehr Gewalt. Ausser, jemand durchbricht diesen Teufelskreis. Sam fordert die Politik auf, das zu tun, in dem sie sich in die Schuhe derjenigen versetzt, über die sie bestimmt. Ob das einfach sei? Bestimmt nicht. Ist es nie. Das wisse er, als schwarzer Mann, der das Sternenbanner-Emblem vor sich trägt, nur zu gut.
Weisst du noch, wie ich vergangene Woche geschrieben habe, dass Radikalismus schlussendlich nichts anderes ist als Menschen, die sich endgültig voneinander abwenden? Was Sam hier einfordert, ist das genaue Gegenteil. Dass die Menschen aufeinander zugehen. Angefangen damit, den Konflikt aus dem Blickwinkel des anderen zu betrachten.
Eine wichtige Message, gerade für ein amerikanisches Publikum, dessen Regierung und Militär in andere Länder marschiert unter dem Vorwand, für Stabilität und Sicherheit sorgen zu wollen. Das ohne das geringste Bewusstsein, wie es sich für die lokale Bevölkerung anfühlen muss, wenn eine fremde Armee das eigene Land besetzt.
«The Falcon and the Winter Soldier» ist bemüht, die Message rüberzubringen, stellt sich dabei aber etwas unbeholfen an. Vor allem, weil Sams Worte meiner Meinung nach etwas gar pathetisch sind. Dennoch ehre ich die Absicht der Autoren, sich nicht vor unbequemen Themen wie Rassismus und Imperialismus zu drücken. Sowas ist in einer Marvel-Show auf Disney+ nichts alltägliches.
Darum: Well done.
Die Geburt des U.S. Agent? Ich glaube, ich hab’s schon dreimal angekündigt. Jetzt ist es offiziell. Schliesslich ist es die Contessa Valentina Allegra de Fontaine, die ihn so nennt. Passend dazu: Sein schwarzer Anzug, wie wir’s aus dem Comic kennen.
Zur Erinnerung: In den Comics wird der U.S. Agent geboren, nachdem Walker als Super-Patriot den Schild und Titel des Captain America übernimmt, als sich Steve Rogers mit der US-Regierung zerstreitet. Als sich Walker des Titels als nicht würdig erweist, wird er im Kampf von Rogers besiegt und daraufhin sein Tod inszeniert. Wenig später ist es die Commission on Superhuman Activities – kurz: die Commission – die ihn unter dem neuen Pseudonym U.S. Agent wiederauferstehen und für sich arbeiten lässt.
Läuft also fast so wie in der Serie ab.
Fragt sich aber, welche Rolle die Contessa hier spielt. In den Comics ist sie eine ehemalige S.H.I.E.L.D.-Agentin – Agent 14 –, die später gar unter dem Pseudonym Madame Hydra die faschistische Organisation anführen wird. Hier, in der Serie, ist nach wie vor nicht klar, wen oder was sie vertritt.
Die Commission vielleicht? Hydra? Oder was ganz anderes?
Indes werden die übriggebliebenen Flag Smasher während ihres Gefangenentransport getötet. Irgendwo im Raft, dem Hochsicherheitsgefängnis für Superschurken, lächelt ein zufriedener Baron Zemo.
Zum Schluss tut Bucky das, was Sam ihm geraten hat: Er erzählt Nakajima, wie sein Sohn wirklich gestorben ist. Nämlich durch die Hand des Winter Soldiers. Durch seine. Nakajima kann damit endlich mit dem Tod seines Sohnes abschliessen, und Bucky findet seinen Frieden. Die Szene selbst ist kurz, zugegeben, aber – Mann, kann Bucky-Darsteller Sebastian Stan schauspielern.
Derweil macht sich Sam zu Isaiah Bradley auf, dem Black Captain America aus den Comics. Witzig: Isaiah ist in der Serie nie der Black Captain America gewesen, er zieht aber Sam ständig damit auf, der Black Falcon zu sein. Dann gehen sie ins Captain-America-Museum, das wir seit «Captain America: The Winter Soldier» kennen. Dort ist ein neuer Flügel aufgegangen. Einer, der sich Isaiah Bradley widmet.
Seiner Geschichte.
Seit 500 Jahren löschen «die» die Geschichte schwarzer Frauen und Männer aus. Das hat Isaiah vergangene Folge gesagt. Dass seine Geschichte wiederhergestellt wird, hat darum umso mehr Symbolkraft. Auch hier wieder: starke Szene.
Ganz zum Schluss wird auch noch Sharon Carter rehabilitiert. Ihr wird gar wieder ihr Posten als Agent 13 angeboten. Was niemand ahnt: Sie, der Power Broker, hat jetzt Zugriff auf alle möglichen Staatsgeheimnisse und Waffenpläne.
Sie zögert keine Sekunde, die an den bestzahlenden Kunden zu verhökern.
Wie hat euch die Folge gefallen? Gibt’s noch Easter Eggs oder WTF-Momente, die mir entgangen sind? Schreib es in die Kommentare. Die nächste Folgenanalyse folgt am 11. Juni, wenn «Loki» startet.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»