Hintergrund
«Joker»: Dürfen wir mit Massenmördern sympathisieren?
von Luca Fontana
«Joker: Folie à Deux» ist für sich allein ein starker Film, der visuell und emotional überzeugt. Doch im Vergleich zum ersten Teil wirkt er wie eine schlechtere Kopie. Mutig ist er nur in einem Punkt: Es wird nun gesungen.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Was die Welt jetzt braucht, sei Liebe, süsse Liebe, sang einst Tom Jones. Schliesslich gäbe es schon genug Berge und Hügel zu erklimmen. Genug Ozeane und Flüsse zu überqueren. Nur Liebe – davon gäbe es nicht genug.
Wie treffend Jones’ Worte auch ein halbes Jahrhundert später noch sein würden, untermalt von einer der bittersüssesten Melodien überhaupt, konnte er wohl selbst nicht ahnen. Doch als «Joker: Folie à Deux» mit seinem Song beginnt, bleibt mir nur ein Kloss im Hals. Bereits der erste «Joker»-Teil setzte ein kraftvolles Zeichen für den Mangel an Liebe und Mitgefühl in der Welt – und der zweite Teil führt genau das fort.
Aber … genau da liegt auch das Problem.
Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) hat gemordet: Als der berühmte Late-Night-Comedian Murray Franklin (Robert DeNiro), den Arthur einst als seinen geistigen Ersatzvater bezeichnete, sich öffentlich über ihn lustig machte, schoss ihm der Möchtegern-Clown eine Kugel in den Kopf – live im Fernsehen.
Seitdem sitzt Arthur nicht nur ein. Er wird gar unter verstärkte Aufsicht gestellt. Wärter mit Gewehren bewachen seine Zelle. Begleiten ihn überall hin. Auch nach draussen, in den strömenden Regen. Schikane steht an der Tagesordnung. Was auch immer vom Häufchen Elend, das Arthur war, übrig geblieben ist – es ist noch kümmerlicher geworden.
Doch dann keimt Hoffnung auf, als Arthurs Wege jene von Harleen Quinzel (Lady Gaga) kreuzen, einer Mitinsassin. Zusammen stellen sie sich eine Welt vor, in der sie Grosses erschaffen. Berge. Hügel. Musik. Die mentale Flucht aus der deprimierenden Realität der Anstalt. Zumindest, bis der öffentlich geführte Prozess gegen Arthur beginnt.
Dass eine der mutigsten und verstörendsten Charakterstudien Hollywoods ausgerechnet von dem Regisseur und Autor der Klamauk-Komödie «Hangover» kommen würde, hätte 2019 wohl niemand erwartet. Todd Phillips liess sich davon nicht beirren; «Joker» setzte neue Massstäbe und brach Rekorde. Bis «Deadpool & Wolverine» war seine lose an die DC-Comics angelehnte Interpretation des Jokers sogar der erfolgreichste R-Rated-Film aller Zeiten.
Kein Wunder: «Joker» war unbequem, aber ehrlich. Gerade deswegen wurde er auch zu einem der kontroversesten Filme der letzten Jahre. «Joker» wagte nämlich die provokante Frage in den Raum zu stellen, ob man Massenmörder vermenschlichen darf – ja, vielleicht sogar sollte. So sehr, dass wir Zuschauenden fast nicht anders konnten, als uns in die Perspektive des Jokers hineinzuversetzen. Wie sonst könnte man verstehen, warum die Gesellschaft so verroht, dass sie solche Gefahren selbst hervorbringt?
Genau hier sahen Kritikerinnen und Kritiker aber auch die Gefahr: Was, wenn potenzielle Gewalttäter sich in ihrer Opferrolle bestätigt fühlen und dies als Rechtfertigung für weitere Taten nutzen? Als Joker am Ende des ersten Films seinen einstigen Helden kaltblütig erschoss, dürften die meisten von uns entsetzt gewesen sein. Aber Hände hoch, wer nicht dieses eine Prozentchen in sich spürte, das eben doch fand, dass Murray letztlich das gekriegt hat, was er «verdient» hatte.
Solche Elemente machten «Joker» faszinierend und verstörend zugleich. Und Todd Phillips hätte den Puls der Zeit nicht besser spüren können: Nur wenige Monate später sollte die Covid-Pandemie die Solidarität unserer Gesellschaft auf eine harte Probe stellen. Unüberwindbare Fronten entstanden – hart und unerbittlich wie Stein. Verständnis, Empathie und Mitgefühl wichen Schuldzuweisungen und Misstrauen, während jeder Mensch ausserhalb der eigenen vier Wände zum potenziellen Feind wurde.
«What the world needs now is love, sweet love», hallt es noch immer in meinem Kopf.
Zu sagen, dass «Joker: Folie à Deux» angesichts des Erfolgs und der Genialität seines Vorgängers zum Enttäuschen verdammt ist, dürfte keine bahnbrechende Feststellung sein. Aber Realität. Dabei macht «Folie à Deux» gar nicht so viel falsch. Eher gleich – nur viel weniger mutig. Darin liegt die eigentliche Enttäuschung.
Noch immer ist Arthur Fleck der Prügelknabe der Gesellschaft. Noch immer meint es das Leben nicht gut mit ihm. Und kaum keimt ein wenig Hoffnung auf, wird sie ihm wieder genommen. So eindringlich es uns erneut gezeigt wird: Das kennen wir schon.
Neu ist allerdings, dass «Folie à Deux» ein Musical ist – eines, das uns immer wieder in die Gedankenwelt des Arthur Flecks entführen will. In dieser tanzt er mit seiner Geliebten Harleen «Lee» Quinzel über die im Neonlicht schimmernden Dächer Gothams, tritt in Nachtclubs auf oder moderiert Fernsehshows. Das Casting Lady Gagas macht gerade in diesem Kontext Sinn. Überhaupt: Die Chemie zwischen den beiden Schauspielenden gehört ganz klar zu den Stärken des Films.
Aber was wie eine verführerische Idee klingt, scheitert an ihrer Umsetzung. «We use music to make us whole. To balance the fractures within ourselves», sagt der Chorleiter der Anstalt. Der Film hätte besser funktioniert, wenn die musikalischen Einlagen das genaue Gegenteil bewirkt hätten: Wenn sie Arthurs Wahnvorstellungen befeuert und ihn noch tiefer in seine psychotische Schübe hätten gleiten und letztlich daran zerbrechen lassen.
Stattdessen wiederholen die musikalischen Szenen meist nur, was wir Zuschauende eh schon wissen und gerade erst gesehen haben. Als ob wir ohne Songs nicht selbst verstünden, was gerade in Arthur vorgeht. Das macht selbige vollkommen obsolet – für ein Musical kommt das einem Todesurteil gleich.
Wenn «Folie à Deux» ein bisschen Spannung aufbaut, dann in seinen Gerichtsszenen. Hier kommt nämlich der eigentliche Kern des Films auf: Wie soll die Gesellschaft mit Menschen wie Arthur Fleck verfahren?
Während Staatsanwalt Harvey Dent (Harry Lawtey) argumentiert, Arthur hätte für seine Taten geradezustehen, weshalb er sogar die Todesstrafe fordert, plädiert die Verteidigung auf Geistesgestörtheit. Nicht Arthur Fleck hätte die Taten begangen, sondern seine abgespaltene Persönlichkeit – der Joker. Arthur gehöre daher nicht bestraft, sondern behandelt.
Ein spannendes Dilemma. Eines, das Todd Phillips allerdings recht eindeutig beantwortet. Schade. Während er uns das Ausknobeln in «Joker» noch selbst überliess, wagt er sich mit «Folie à Deux» nie so richtig aufs Glatteis. Und die Antwort, die er uns gibt, ist – ohne zu spoilern – am Ende genauso offensichtlich wie uninspiriert.
Das sieht man besonders an der Schar von Menschen, die sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt und «Gerechtigkeit für Arthur Fleck» fordert. In «Folie à Deux» existiert nämlich ebenfalls ein «Joker»-Film. Einer, der Mitleid und Sympathie für den Charakter erregt hat. Arthur wurde damit unfreiwillig zur Inspiration weiterer potenzieller Gewalttäter, die sich als Opfer des Systems sehen. Na, kommt dir das bekannt vor?
Phillips zeigt besonders in der Darstellung dieser kultartigen Versammlungen deutlich, was er davon hält: nichts. Oder anders gesagt: Für ihn ist offensichtlich, dass die Idealisierung des Jokers Überhand genommen hat. Durch den Mund seiner Filmfiguren lässt Phillips sogar ziemlich offen durchblicken, dass sich selbst Arthurs Anhänger gar nicht wirklich für die Tragödie des gebrochenen Mannes interessieren. In einer Welt, die längst dem Sensationalismus verfallen ist, ergötzt sich die Masse letztlich ja doch nur am Joker, weil dieser zum charismatischen Märtyrer stilisiert wird. Arthur hingegen ist und bleibt ein Niemand.
«That’s what we should be talking about», sagt er einmal selbst im Film.
Ob ich das genauso sehe? Ja – und nein. Die Stärke von «Joker» lag darin, uns Zuschauende allein und ungestützt mit ambivalenten Gefühlen zurückzulassen. Unsere eigene Moralität sogar in Frage stellend – und uns selbst zum Schluss kommen zu lassen, was wir mit dem Gesehenen anfangen wollen. Genau das entfachte die Diskussion um komplexe Themen wie schwere psychische Erkrankungen und was wir als Gesellschaft tun können, um Böses zu verhindern.
In der Fortsetzung hingegen nimmt uns Todd Phillips das Nachdenken ab. Gibt klare Antworten auf Fragen, die er im ersten Teil schon stellte. Vielleicht sogar, um diesmal Polemiken zu verhindern, die ihn schon einmal als gewaltverherrlichenden Menschen sehen wollten. Das verstehe ich. Aber «Folie à Deux» verpasst es damit, uns Zuschauenden erneut einen cineastischen Denkzettel zu verpassen, wie’s der erste Teil tat.
«Joker: Folie à Deux» ist zweifelsohne gerade dann ein emotional mitreissender Film, wenn er die Chemie zwischen Phoenix und Gaga in Szene setzt. Dass ausgerechnet die musikalischen Einlagen hinterherhinken, überrascht: Regisseur Todd Phillips gelingt es nämlich zu selten, die Musical-Elemente nahtlos in die düstere Erzählung zu integrieren. Vielmehr wiederholen sie zu oft, was wir Zuschauende bereits wissen und gesehen haben.
Noch schwerer ins Gewicht fällt, dass «Folie à Deux» nicht nur wenige neue Denkanstösse gibt, die wir nicht schon aus dem Vorgänger kennen. Das stellt die Frage in den Raum, wozu es diese Fortsetzung überhaupt braucht. Vielmehr fehlt es an Mut, die unbequemen Fragen eben nicht zu beantworten.
Für sich allein betrachtet ist der Film allerdings keineswegs schlecht. Dafür sind die schauspielerischen Einlagen, die beklemmende Inszenierung und die unter die Haut gehende Filmmusik viel zu gut. Am Ende scheitert «Folie à Deux» womöglich einfach nur daran, dass bereits eine bessere Version ihrer selbst existiert – und an dieser muss sich «Folie à Deux» nun mal messen lassen.
Kinostart ist der 3. Oktober.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»