Hintergrund
Aquafit für Hunde: Zu Besuch in der tierischen Physiopraxis
von Darina Schweizer
Das Tierspital Zürich behandelt jährlich über 28 000 Tiere. Bei meinem Besuch staunte ich über massgeschneiderte Prothesen, Kot-Transplantationen und darüber, was alles in Hundemägen landet.
Ein Neufundländer hockt mit tropfender Zunge unter dem Empfangstresen. Hinter ihm hinkt ein Husky durch die Schiebetür. Und aus einer Transportbox im Wartebereich jammert eine Kartäuserkatze. Es ist «Full House» am Dienstagmorgen im Universitären Tierspital Zürich.
Während ich das tierische Treiben beobachte, geht die Fantasie mit mir durch. Ob als nächstes ein Elefant den Rüssel durch den Eingang streckt? Immerhin behandelt das Tierspital auch Zootiere. Ich frage gleich den ärztlichen Direktor Jean-Michel Hatt, als er mich für eine Tour durchs Spital begrüsst. Er meint lachend:
Elefanten, Löwen, Pferde, Kühe, Schweine, Hunde, Katzen, Erdmännchen, Degus, Zebrafinken: Das Tierspital kümmert sich um alle möglichen Patienten von fünf Gramm bis fünf Tonnen Körpergewicht. Ich bin für die «Knirpse» da: die Kleintiere. Ihnen gehört die grösste Abteilung im Spital. Rund 14 000 Hunde und 6000 Katzen gehen in der Kleintierklinik jährlich ein und aus.
Wie viel Platz das benötigt, merke ich, als wir die lange Treppe hoch- und einen kaum endenden Gang nach hinten gehen. Gastroenterologie, Kardiologie, Dermatologie, Dialyse, Neurologie: Jeden Fachbereich für den Menschen gibt es auch für das Tier. Sogar die Klinikausstattung stammt grösstenteils aus der Kindermedizin – die Geräte haben die optimale Grösse. Am liebsten möchte ich gleich einen Blick hinter die Türen werfen. Das darf ich auch gleich: Jean-Michel Hatt übergibt mich an Sebastian Knell, Oberarzt der Kleintierchirurgie.
Mit ihm betrete ich die Anästhesie. Eine Handvoll Mitarbeitende narkotisieren gerade zwei Mini-Fellbündel. Das eine ist ein Chihuahua mit einem Wasserkopf, in dem sich Gehirnflüssigkeit angesammelt hat. Ein häufiges Krankheitsbild von Zwergrassen. Das andere ist ein Mischling, der ein Trauma erlitten hat – möglicherweise durch einen Sturz vom Balkon oder eine Kollision mit einem Auto. Häufiger sind jedoch andere Beschwerden. Die meisten, oft reinrassigen, Tiere hätten orthopädische Probleme, sagt Sebastian Knell. Je nach Rassetrend seien andere Gelenke betroffen:
Tatsächlich ist gerade ein Frenchie mit Halskrause da. Er sitzt in einem kleinen Nebenraum, sichtlich beduselt. Die Narkose scheint zu wirken. Aber warum ist er separiert? «Aus Platzgründen», sagt Sebastian Knell. Die Tierklinik stosse langsam an ihre Grenzen. Das liege hauptsächlich an der wachsenden Zahl Haustiere und Bedürfnisse ihrer Halterinnen und Halter. «Früher wurden Tiere schneller eingeschläfert, heute leisten sich Besitzer und Besitzerinnen aufwändige Behandlungen.» Machbar ist das durch immer bessere medizinische Möglichkeiten.
Was das konkret heisst, zeigt Sebastian Knell ein paar Räume weiter. Hier setzen Chirurginnen und Chirurgen einem Schäferhund gerade eine Hüftprothese ein. Nicht etwa ein Standardmodell wie vor einigen Jahren noch – eine individuell angepasste 3D-Rekonstruktion. Ich komme aus dem Staunen kaum mehr raus. «Ist das für jedes Gelenk möglich?», will ich wissen. «Theoretisch, ja. Aber Routine sind bislang vor allem Hüftprothesen. Knie- und Ellbogenprothesen setzen wir nur sehr vereinzelt ein.»
Zugenommen haben laut Sebastian Knell vor allem Sportverletzungen, zum Beispiel durch die Hundesportart Agility. «Border Collies verletzen sich beim Slalomlaufen oft an der Schulter», so der Oberarzt. Eine Erholungstherapie, zum Beispiel in der klinikinternen Physiotherapie, sei in solchen Fällen besonders wichtig. Aber:
Für Spezialbehandlungen greifen Haustierbesitzende oft tief in die Tasche. Als wir an der Onkologie vorbeigehen, verrät Sebastian Knell, dass Rekonstruktionen bei Krebserkrankungen zu den komplexesten Eingriffen gehören. «Wenn wir bei einer Katze ein Titanbrustbein einsetzen, sind wir höchst gefordert.»
Eine Behandlung erschweren können auch die Charaktereigenschaften bestimmter Rassen. Dass eine lebhafte Bengalkatze ihr Knie nach einer Operation schont, ist fast unmöglich. Und auch Border Collies können kaum still sitzen und müssen mit Kopfarbeit abgelenkt werden. «Einfacher ist der Labrador. Der hat weit weniger Bewegungsdrang und frisst am liebsten», sagt Sebastian Knell und lacht.
Oft ist es genau der unersättliche Appetit, der die Vierbeiner ins Tierspital bringt. Auch wenn immer weniger Tiere bei Eingriffen sterben: Vergiftungen sind die Beschwerden, die am häufigsten tödlich enden. Laut Sebastian Knell wird vielfach unterschätzt, wie gefährlich scheinbar harmlose Lebensmittel sein können.
Sebastian Knell und sein Team haben schon alles Mögliche aus Tiermägen herausgeholt: Sägespäne, Grillspiesse, Enthaarungswachs, Migros-Sammelfiguren. Und sogar schon eine unbekannte Damenunterhose, die einen Ehemann in Erklärungsnot brachte. Da hatte der Hund wohl Beweismaterial vernichten wollen.
Das Tierspital behandelt nicht nur Krankheiten und Beschwerden, es sorgt auch vor. Letzten Sommer startete es das «Growing Dog Project». Damit sollen frühzeitig Erkrankungen erkannt werden. So funktioniert es: Hunde kommen von der Geburt bis zum Tod für regelmässige Untersuchungen vorbei. Spezialistinnen und Spezialisten des Tierspitals überprüfen die Ernährung und den Impfstatus, führen eine sorgfältige klinische Untersuchung durch und entnehmen Blut-, Schleimhaut-, Urin- und Kot-Proben. Hauptverantwortlich ist Stefan Unterer, Direktor Klinik für Kleintiermedizin, Spezialgebiet Gastroenterologie. Er sagt:
Bei tierischen Darmerkrankungen hat das Tierspital mit Kot-Transplantationen von Spendertieren bereits gute Ergebnisse erzielt. Was eklig klingt, ist ein gefundenes Fressen: In den Exkrementen steckt eine Vielzahl an Mikroben, also wertvolle Bakterien, die den Darm des kranken Tieres wieder ins Gleichgewicht bringen können. «Wir kommen auch immer mehr davon weg, standardmässig zu entwurmen und zu impfen. Sinnvoller ist es, Antikörper zu untersuchen und den Tieren individuelle Impfungen zu geben. Ganz nach dem Motto: ‹So viel wie nötig, so wenig wie möglich›», sagt Stefan Unterer.
50 Hunde sind bislang beim «Growing Dog Project» dabei. Eine davon ist die Maltipoo-Dame Joy. Ihre Besitzerin Sarah Frutiger kommt an diesem Vormittag mit der Hündin für einen Kontrolltermin bei Stefan Unterer vorbei. «Meine Hundetrainerin hat mir davon erzählt. Ich hielt es für sinnvoll, der Forschung zu helfen», erzählt sie.
Eine Ernährungsberatung hat Joy schon hinter sich. Und worauf gilt es zu achten? Die Ernährungsberaterin und Tierärztin Freya Moscoso, die bei der Untersuchung anwesend ist, sagt:
Joy ist quietschfidel. Nach einem kurzen Check des Bluts sowie der Zähne, Ohren und Augen entfernt die Tierarzt-Doktorandin Dajana Birk lediglich ein paar Zecken. Auch der Grossteil der restlichen 49 Welpen des Forschungsprojekts ist wohlauf. Nur bei einem Welpen waren die Leberenzymwerte zu hoch. «Wir haben herausgefunden, dass er eine angeborene Lebermissbildung hat, bei der ihm die Gallenblase fehlt», sagt Stefan Unterer. «Er erhält nun eine entsprechende Vorsorgebetreuung, damit er später hoffentlich nicht krank wird. Das ist ein erster kleiner Triumph.»
Den grössten Durchbruch erlebte Stefan Unterer kürzlich mit einem neuen Medikament, das von Forschenden in den USA entwickelt wurde. Es hilft gegen die Feline Infektiöse Peritonitis (FIP). «Früher starben Katzen nach ein bis zwei Wochen daran. Jetzt können wir alle heilen», sagt er. Einziges Problem: Das Medikament ist noch nicht auf dem Markt. «Sobald wir genug Daten haben, um die Sicherheit des Medikaments zu bestätigen, hoffen wir auf eine Zulassung in Europa.» Genug Daten geliefert hat Joy für heute. Freudig schwänzelnd verlässt sie mit Sarah Frutiger wieder den Untersuchungsraum.
Auch im Aufwachraum der Kleintierklinik sind einige Patienten bald bereit für die Entlassung. Eine Bengalkatze mit halb rasiertem Rücken, die wehmütig aus dem Gitter äugt, kann es kaum erwarten. Ein paar Boxen weiter hinten miaut eine Kartäuserkatze mit einem verbundenen Vorderbein. Das gibt’s doch nicht! Es ist dasselbe Tier, mit dem ich am Morgen im Empfangsbereich der Kleintierklinik gewartet habe. «Gute Besserung!», wünsche ich der Patientin und mache mich ebenfalls auf den Nachhauseweg.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.